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Made in Italy?

Nancy Greenleese/ cb23. Juni 2013

Italien ist bekannt für handgemachte Meisterwerke - und das, während überall sonst die Massenproduktion auf dem Vormarsch ist. Aber auch viele italienische Kunsthandwerker stehen heute vor dem Aus.

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Die Schere von Paola Gueli liegt auf einem Tisch. Foto: Luigi Fraboni
Bildergalerie Made in ItalyBild: Luigi Fraboni

Die 'Michelangelos der Handwerkskünste' sterben aus, und ihre Kunst mit ihnen. Trotz einer hohen Arbeitslosenrate erlernen die jungen Italiener kein Handwerk mehr. Giuliano Ricchi arbeitet im Florenzer Stadtteil Oltrarno, wo Kunsthandwerker seit Jahrhunderten Meisterwerke aus Metall herstellen. Seine rauen Hände halten eine Metallplatte, die mit Florentinischen gigli verziert ist, den feinen Lilien, die das Symbol der Stadt sind.

"Es dauert fast einen Monat, um das Muster in so eine Platte hereinzuritzen", erzählt Ricchi der DW, "alles von Hand gemacht." Der 66-Jährige legt die Platte in eine Druckmaschine aus dem frühen 20. Jahrhundert, gemeinsam mit einem glatten Messingblatt. Die massige Maschine surrt, bevor sie das hauchdünne Messingstück mit dem Blumendruck darauf ausspuckt. Ricchi wird es zerschneiden und aus den Teilen Tablettendosen, Ringhalter und andere Dinge machen, die in Luxusläden auf der ganzen Welt verkauft werden.

***ACHTUNG: Bild bitte nur für den Artikel oder die Bildergalerie "Made in Italy" von Nancy Greenleese verwenden!!!*** Auf dem Bild: A machine in Giuliano Ricchi’s workshop stamps a hand-etched design onto brass. The brass plates are transformed into pillboxes, business card holders or other small, elegant containers. (Photo by Nancy Greenleese) Bilder wurden am 18.6.2013 von Emma Wallis mit der Versicherung angeliefert, dass alle Rechte mit den Fotografen geklärt sind.
Ricchis Metallpresse druckt ein Blumenmuster auf ein MessingblattBild: DWN.Greenleese

Erste Begegnungen mit der Kunstwelt

Vor mehr als einem halben Jahrhundert begann Ricchi in der Werkstatt zu arbeiten, in der er heute steht. Sie trägt noch immer den Namen ihres verstorbenen Besitzers, Carlo Cecci. Ricchi war damals 15 Jahre alt und einer von vielen Lehrlingen. "Ich fing sofort an der Werkbank an, um zu lernen, wie man Metall mit einer speziellen Säge zerlegt, und wie man Metallradierungen anfertigt", sagt Ricchi. "Mit der Zeit haben wir das komplette Handwerk erlernt. Es war wirklich wie in einer Schule."

Fast alle Jungs in florentinischen Werkstätten damals wurden nicht bezahlt und hatten lange Arbeitszeiten. Das wäre heute wegen Arbeitsgesetzen unmöglich. Ricchi übernahm die Werkstatt von seinem Meister Cecchi, als dieser starb. Die eigene Nachfolge ist für den 66-Jährigen aber nicht geregelt. "Es gibt niemanden, der in der Lage wäre, die Werkstatt zu übernehmen", sagt Ricchi.

***ACHTUNG: Bild bitte nur für den Artikel oder die Bildergalerie "Made in Italy" von Nancy Greenleese verwenden!!!*** Auf dem Bild: Giuliano Ricchi displays his version of the tiny boxes that Florentine craftsman have made for hundreds of years. (Photo by Nancy Greenleese) Bilder wurden am 18.6.2013 von Emma Wallis mit der Versicherung angeliefert, dass alle Rechte mit den Fotografen geklärt sind.
Ricchi mit einigen seiner ErzeugnisseBild: DWN.Greenleese

Zwar sind laut aktuellen Regierungszahlen fast 40 Prozent der Jugendlichen im Land arbeitslos. In Süditalien liegt diese Anzahl sogar bei 50 Prozent. Aber um den Platz an Ricchis Werkbank drängen sich keine jungen Menschen, die es kaum erwarten können, das Handwerk zu erlernen. Selbst seine eigene Tochter entschied sich für eine andere Karriere. "Wenn ich in Rente gehe, wird dieser Raum zu einer Wohnung umgebaut", erzählt der Kunsthandwerker. "Die Metallwerkstatt wird verschwinden. Das ist wirklich schade."

Kunsthandwerker verzweifelt gesucht

In ganz Florenz schließen Kunsthandwerkstätten für immer ihre Türen. Und das in der Stadt, die Michelangelo, Da Vinci und Brunelleschi hervorgebracht hat.

Aber die jungen Florentiner können nur sehr schwer in die Fußstapfen ihrer künstlerischen Vorfahren treten. Ausbildungsplätze gibt es fast gar keine, und Italiens öffentliche Universitäten bieten keine künstlerischen Ausbildungen an. Das mussste auch Negar Azhar Azari erfahren, eine junge Künstlerin, die in Florenz als Tochter von iranischen Einwanderern geboren wurde. Sie hat lange nach einem Ausbildungsplatz gesucht, und wurde immer wieder abgewiesen. "Ich habe an so viele Türen geklopft", sagt die 34-Jährige. Aber immer und immer wieder hörte sie: "Keine Chance."

***ACHTUNG: Bild bitte nur für den Artikel oder die Bildergalerie "Made in Italy" von Nancy Greenleese verwenden!!!*** Auf dem Bild: 34-year-old Negar Azhar Azari studied etching and jewelry making for nine years before opening her own gallery and workshop. (Photo by Simone Pierroti) Bilder wurden am 18.6.2013 von Emma Wallis mit der Versicherung angeliefert, dass alle Rechte mit den Fotografen geklärt sind.
Azari hatte es schwer, einen Ausbildungsplatz zu findenBild: Simone Pierroti

Ältere Kunsthandwerker können es sich einfach nicht leisten, ihr Wissen weiterzugeben. Wegen Italiens legendärer Bürokratie ist es ein zeitraubendes und teures Unterfangen, einen Auszubildenden einzustellen. Es bedeutet einen Einschnitt in die Einnahmen, der schärfer ist als man ihn mit einem bollino, dem berühmten florentinischen Werkzeug, machen könnte.

Stipendien von außerhalb

Touristenführer Luca Santiccioli stellt Urlaubern häufig die Kunsthandwerker persönlich vor. Er hat viele Werkstätten verschwinden sehen. Vor einigen Jahren wurde ein Kunsthandwerker, den er oft besuchte, krank. Weil niemand die Jahrhunderte alte Werkstatt übernehmen konnte, musste sie geschlossen werden. Santiccioli bat seinen Arbeitgeber Context Travel eindringlich, beim Erhalt der traditionsreichen Unternehmen zu helfen. Mit Erfolg: Context finanziert nun ein Stipendium für einen werdenden florentinischen Kunsthandwerker, dass ihm oder ihr ein Studium an einer privaten Hochschule ermöglicht und einen bezahlten Ausbildungsplatz vermittelt. Negar Azhar Azari erhielt das erste Context Travel Stipendium, dass ihr für sechs Wochen Einlass in die Werkstatt von Giuliano Ricchi bescherte.

Von Ricchi lernte sie, Metall auf eine Weise zu gravieren, "die älter ist als ich selbst", sagt Azari. Im vergangenen November eröffnete sie das NAA-Studio, ihre eigene Kunsthandwerkstatt mit angeschlossenem Juwelierladen, nur ein paar Blocks von Ricchis Werkstatt entfernt. Aber sie ist eine seltene Erfolgsgeschichte.

***ACHTUNG: Bild bitte nur für den Artikel oder die Bildergalerie "Made in Italy" von Nancy Greenleese verwenden!!!*** Auf dem Bild: Negar Azhar Azari’s studio showcases etched pieces that she created using the pictured Florentine etching tools called bollini. She learned many tecniques during her apprenticeship with Giuliano Ricchi. (Photo by Simone Pierroti) Bilder wurden am 18.6.2013 von Emma Wallis mit der Versicherung angeliefert, dass alle Rechte mit den Fotografen geklärt sind.
Azari stellt in ihrem Studio ihre Werke ausBild: Simone Pierroti

Immer weniger Schneider

Den Schneidern in Rom geht es ähnlich. Einige Blocks vom Kolosseum entfernt nimmt Paola Gueli eine riesige Schere in die Hand. Sie ist ein Symbol für ihre Vergangenheit und ihre unsichere Zukunft. Ihr Vater, ein pensionierter Schneider, schenkte ihr die Schere. Er brachte ihr auch bei, wie man Kleidung macht, die Kunden zum Schwärmen bringt.

***ACHTUNG: Bild bitte nur für den Artikel oder die Bildergalerie "Made in Italy" von Nancy Greenleese verwenden!!!*** Auf dem Bild: Tailors Paola and Raffaele Gueli, daughter and father, have about a century of combined experience. Today one in five tailoring jobs goes unfilled, despite record unemployment. (photo by Luigi Fraboni) Bilder wurden am 18.6.2013 von Emma Wallis mit der Versicherung angeliefert, dass alle Rechte mit den Fotografen geklärt sind.
Raffaele und Tochter Paola Gueli haben zusammen etwa 100 Jahre Schneider ErfahrungBild: Luigi Fraboni

Aber das Handwerk ist vom Aussterben bedroht. In den 1950er Jahren, als Paolas Vater seine Karriere begann, arbeiteten rund vier Millionen Schneider in Italien. Heute ist diese Zahl auf 700.000 gefallen. Ein Teil von Italiens Kulturerbe steht vor dem Aus.

Gueli sagt, dass der Staat, und insbesondere die Kunsthandwerker Vereinigungen und Gewerkschaften, die Schneider zu wenig unterstützen. Kredite und finanzielle Unterstützung seien viel zu selten. Vor kurzem hatte Gueli einen Autounfall, in dem ihr rechtes Bein, mit dem sie die Nähmaschine bedient, verletzt wurde. Sie musste ihren Laden für einen Monat schließen.

***ACHTUNG: Bild bitte nur für den Artikel oder die Bildergalerie "Made in Italy" von Nancy Greenleese verwenden!!!*** Auf dem Bild: The hands of Italian tailor Paola Gueli transform garments with a finesse that’s impossible to achieve with the most sophisticated sewing machines. (photo by Luigi Fraboni) Bilder wurden am 18.6.2013 von Emma Wallis mit der Versicherung angeliefert, dass alle Rechte mit den Fotografen geklärt sind.
Paola Gueli hat feinfühlige HändeBild: Luigi Fraboni

Designer gegen Schneider

An der Nationalen Akademie für Schneider in Rom zeichnen drei Studenten Entwürfe für einen legeren Herrenanzug. Sie erlernen das Handwerk wie ihre Vorfahren an dieser Schule, die 1575 von Papst Gregor dem 13. gegründet wurde. Jahrhunderte lang wendeten sich Italiener, auch wenn sie nicht wohlhabend waren, an einen Schneider, um ihre liebsten Kleidungsstücke reparieren, oder sich elegante Outfits schneidern zu lassen. 

"Das ist das Bild, das man von einem Europäer hat", sagt Akademie Präsident Mario Napolitano, der selbst einen hellbraun karierten Maßanzug mit himmelblauem Hemd trägt. "Leider lassen wir es einfach verschwinden, und das sollten wir nicht tun."

Die Akademie möchte expandieren, und ein Drei-Jahres-Programm anbieten. Aber dafür fehlt es ihr an Geld und Unterstützung der Regierung. Eine weitere Bedrohung: die Anziehungskraft der Modedesigner. Student Federico De Peppo gibt zu, dass er "besessen" ist von Tom Fords und Giorgio Armanis Entwürfen. Er möchte alles lernen, was es über das Schneidern von Herrenmode zu lernen gibt - aber Schneider werden will er nicht. "Ich möchte nicht als Kunsthandwerker arbeiten", sagt De Peppo. Sein Berufswunsch ist Modeschöpfer.

"Die Kunst der Schneiderei Kunst wurde sträflich vernachlässigt", findet Akademie Präsident Napolitano. Er sagt, dass in den 1980ern der Aufstieg der Designer zu Ikonen begann. Das hätte nicht auf Kosten der Schneider gehen müssen. Leider tat es das aber. Und mittlerweile haben auch die berühmten Modeschöpfer deswegen Probleme: Es gibt zu wenig Schneider, die ihre ausgefallenen Kollektionen nähen können. Italiens Kunsthandwerker Vereinigung berichtet in einer aktuellen Studie, dass eine von fünf Schneiderstellen unbesetzt bleibt.

***ACHTUNG: Bild bitte nur für den Artikel oder die Bildergalerie "Made in Italy" von Nancy Greenleese verwenden!!!*** Auf dem Bild: Spools of thread in Paola Gueli’s tailor shop in Rome. (photo by Luigi Fraboni) Bilder wurden am 18.6.2013 von Emma Wallis mit der Versicherung angeliefert, dass alle Rechte mit den Fotografen geklärt sind.
Die traditionelle Arbeit mit Nadel und Faden steht in Italien vor dem AusBild: Luigi Fraboni

Das organisierte Verbrechen in der Backstube

Weiter südlich, in Palermo, Sizilien, schiebt Francesco D'Aloisi Brotlaibe in seiner Bäckerei "Il Fornaio" in den Ofen. Der 70-jährige Bäcker fing an zu arbeiten, als er neun Jahre alt war. Er stand im Morgengrauen auf und lieferte Brote mit dem Fahrrad aus. "Ich bin liebe meine Arbeit leidenschaftlich, und habe ich nie etwas anderes getan."

D'Aloisi weiß, wie man köstliches sizilianisches Brot macht, außen mit der knusprigen Sesam-Kruste und innen ganz weich. Und er ist überzeugt, dass seine kulinarische Kunst stirbt. Italienische Familien sind kleiner, und Gehaltsschecks auch. Deswegen kaufen weniger Menschen frisches Brot. In den letzten fünf Jahren ist der Brotverkauf in Sizilien laut einer nationalen Konsumentenvereinigung um 30 Prozent gefallen.

***ACHTUNG: Bild bitte nur für den Artikel oder die Bildergalerie "Made in Italy" von Nancy Greenleese verwenden!!!*** Auf dem Bild: At Il Fornaio bakery, Michele D’Aloisi carefully sprinkes sesame seeds on every loaf. Artisan bakeries are closing in Sicily, victims of the crisis, Mafia extortion and the trend to buy industrial bread from supermarkets. (photo by Luigi Fraboni) Bilder wurden am 18.6.2013 von Emma Wallis mit der Versicherung angeliefert, dass alle Rechte mit den Fotografen geklärt sind.
Michele D'Aloisi hat der Mafia die Stirn gebotenBild: Luigi Fraboni

Sizilianische Kunsthandwerker wie D'Aloisi haben nicht nur mit den Problemen der globalen Gesellschaft zu kämpfen, sondern auch mit der organisierten Kriminalität. Vor einigen Jahren versuchte die Mafia, ihre Hände in die Teigschüssel der Bäcker zu stecken. "Wir haben einen Anruf bekommen", sagt Michele, Francesco D'Aloisis Sohn und Bäckerei Manager. Ohne einen Namen zu nennen machte die Stimme am anderen Ende einen "Vorschlag": Die Bäckerei solle damit aufhören, bestimmte Produkte herzustellen, um Pro-Mafia Läden nicht in die Quere zu kommen.

"Ich habe das für einen Scherz gehalten." Aber eines Morgens um 3 Uhr klingelte das Telefon erneut - diesmal war die Feuerwehr dran. Die Bäckerei stand in Flammen. "Das war ein schreckliches Erlebnis", sagt Michele. "Sie haben nicht nur die Bäckerei angezündet, sie haben auch versucht, unser Haus niederzubrennen."

Gemeinsam gegen die Mafia

"Il Fornaio" erstatte Anzeige und trat "Addiopizzo", einer Anti-Mafia Gruppe, bei. Rund 800 Firmen haben das Übereinkommen der Organisation unterschrieben und damit "Nein" zur Mafia gesagt. Das ist ein Risiko, aber für viele Kunsthandwerker der einzige Weg, um der Mafia von ihrem sowieso schon kleinen Verdienst nicht noch etwas abgeben zu müssen.

 D'Aloisis Bäckerei trotzt zurückgehenden Verkaufszahlen mit einem breiteren Sortiment. Sie bietet jetzt auch Mini-Pizzas und Gebäckstücke an. Trotzdem ist Gründer Francesco überzeugt, dass Bäckereien bald verschwunden sein werden. Sein Sohn und Enkel hingegen sind zuversichtlich, dass Kreativität, und dass Ausschließen der Mafia aus der Küche den Bäckereien helfen wird.

***ACHTUNG: Bild bitte nur für den Artikel oder die Bildergalerie "Made in Italy" von Nancy Greenleese verwenden!!!*** Auf dem Bild: The bakers and brains behind the family-run bakery Il Fornaio in Palermo. (L to R) Michele D’Aloisi with his son Francesco D’Aloisi and father Francesco “Franco” D’Aloisi. They refused to bow to Mafia demands to alter their products, prompting the criminals to set fire to the bakery. (photo by Luigi Fraboni) Bilder wurden am 18.6.2013 von Emma Wallis mit der Versicherung angeliefert, dass alle Rechte mit den Fotografen geklärt sind.
Drei Generationen arbeiten im "Il Fornaio" zusammenBild: Luigi Fraboni

"Die jungen Leute wie mein Sohn werden erfolgreicher sein als ich, als meine Generation. Und seine Kinder werden noch erfolgreicher sein", sagt Sohn Michele. Enkel Francesco hat sogar sein eigenes Café eröffnet, dass handgemachte Bäckereiwaren anbietet, und Erpressern der Mafia ein klares "Nein" entgegen hält. "Vielleicht sind die mutigen Neinsager ja irgendwann in der Mehrheit, und dieser Parasit, dieses Virus, wird verschwinden", sagt Francesco.

Die Hoffnung der Bäcker ist, dass die Verkaufszahlen wieder steigen. Das würde zumindest einem Zweig italienischen Kunsthands neues Leben einhauchen.

Dieser Artikel ist Teil des Global Story Projects, mit Unterstützung der Open Society Foundations. Präsentiert von PRX, der Public Radio Exchange.