"Justizreform gefährdet Polens Zukunft"
1. Oktober 2018Deutsche Welle: Warum hat sich der polnische Oberste Gerichtshof mit den Fragen zum neuen Gesetz nicht an das polnische Verfassungsgericht, sondern an den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg gewandt?
Malgorzata Gersdorf: Natürlich nicht ohne Grund. Wir haben kein Vertrauen mehr in das Verfassungsgericht, seit es umgestaltet wurde. Man hat dort neue Richter gewählt, die enge Verbindungen zu der Regierungspartei haben. Das ist niemals gut. Man braucht unabhängige Richter.
Kann man sagen, dass das Regierungslager Polen so zu einem autoritären Staat macht?
So würde ich das nicht formulieren, absolut nicht. Aber es geht in die Richtung. Wenn die Gerichtsbarkeit übernommen wird, können die Bürger nicht sicher sein, dass die Gerichte unabhängig bleiben. Das ist sehr gefährlich für die Zukunft. Uns allen ist bewusst, dass jede Regierung versuchen wird, solche Instrumente zur Beeinflussung der Justiz zu nutzen. Es ist nicht so, dass das allein der jetzigen Regierung nutzen wird. Auch wenn PiS abgewählt wird, werden diese Instrumente jeder künftigen Regierung zugute kommen, denn jede Regierung möchte gerne "eigene" Gerichte haben.
Sie haben selbst mehrmals betont, dass Polen eine Justizreform braucht. In welche Richtung sollten die Reformen gehen?
Man braucht sehr spezielle Reformen, die sich auf die Prozeduren beziehen. Bei uns haben die Gerichte in sehr vielen kleinen Sachen zu entscheiden und sind dadurch überlastet. Das kommt daher, dass nach der Wende 1989 die Bürger selbst wollten, dass alles von den Gerichten entschieden wird. Man hatte eben Vertrauen in die Gerichte.
Jetzt verunglimpft die regierende Partei die Richter, zum Beispiel mit der Behauptung, sie seien korrupt. Aber [die Staatengruppe des Europarates - d.Red.] GRECO, die Korruption in der Justiz untersucht, hat uns zweimal bescheinigt, dass es bei uns keine Korruption gibt. Ausgerechnet nach der jetzigen Justizreform können manche Regelungen dazu führen, dass die Richter durch neue Aufstiegschancen in Versuchung kommen werden. So sind in der neuen Disziplinarkammer des Obersten Gerichts die Gehälter um 40 Prozent höher als bei anderen Richtern. Da fragt man sich: Warum so ein Unterschied?
Die Regierung behauptet, Sie seien pensioniert. Sie selbst halten sich nach wie vor für die amtierende Präsidentin des Obersten Gerichtshofs und berufen sich dabei auf die Verfassung, die Ihnen die volle Dauer Ihrer Amtszeit garantiert. Was wird, wenn ein neuer Präsident an Ihrer Stelle ernannt wird und in Ihr Büro einzieht?
Ich werde einfach das Büro räumen müssen. Ich werde keinesfalls dort bleiben, sondern werde das Büro verlassen.
Sie sagten aber neulich bei der Tagung der Präsidenten der Obersten Gerichte der EU in Karlsruhe, dass Sie trotz allem hoffen, dass die Regierenden in Polen ihr Vorgehen noch mal überdenken und die Zwangspensionierung der Richter rückgängig machen.
Ich denke die ganze Zeit, dass die Regierenden verfassungswidrige Regelungen überdenken sollten. Denn sie sind auch für sie nicht vom Vorteil. Ich hoffe, dass man diese so breit angelegte Justizreform stoppen wird. Ich warte die ganze Zeit darauf. Hätte ich die Hoffnung nicht, würde ich nicht warten, und ich wäre auch nicht hier. Ich würde nicht ständig wiederholen, dass ich amtierende Präsidentin der Obersten Gerichtshofs bin.
Sie haben in dieser schwierigen Situation die Rückendeckung Ihrer Kollegen aus der EU erhalten.
Die hatte ich schon früher. Die Kollegen vom Netzwerk der Präsidenten der Obersten Gerichte der EU haben mich mehrmals in Warschau besucht. Ich habe viele Briefe mit Solidaritätsbekundungen und Wünschen der Ausdauer in meiner Rechtsauffassung bekommen. Denn es geht hier um die Rechtsauffassung, nicht um meine Person. Der ganze Stress, den ich erlebe, ist nicht mit Geld zu bezahlen. Aber hier geht es um etwas Höheres. Hier geht es um meinen Staat. Polen ist mein Staat.
Letztes Jahr gab es in internationalen Medien viele Berichte über Demonstrationen in Polen, deren Teilnehmer die Unabhängigkeit der Gerichte verteidigen wollten. Ist das nicht so, das die jetzige Krise der politischen Bildung der Bürger nutzt?
Das zivile Bewusstsein in dieser Beziehung wächst, aber es ist immer noch zu schwach. Man muss diesen Bildungskurs beschleunigen und damit die ganze Gesellschaft erreichen. Das haben wir früher tatsächlich versäumt: Die Menschen zu lehren, was Demokratie und Parlamentarismus bedeuten.
Małgorzata Gersdorf (67), ist eine polnische Juraprofessorin von der Universität Warschau, und seit 2014 Präsidentin des Obersten Gerichtshofes (nach Rechtsauffassung der polnischen Regierung pensioniert 2018).
Das Interview führte Joanna de Vincenz (DW-Polnisch)