Der ESC zwischen Musikwettbewerb und Israel-Kritik
Veröffentlicht 10. Mai 2024Zuletzt aktualisiert 11. Mai 2024"Hurricane" ist der diesjährige israelische Beitrag beim Eurovision Song Contest (ESC). Ursprünglich hieß er "October Rain". Das sei zu sehr an das Massaker des 7. Oktober 2023 angelehnt, als Hamas-Terroristen Israel angriffen, befand die Europäische Rundfunkunion (EBU), die den Wettbewerb organisiert. Die EBU verlangte, den Text zu ändern: Der ESC sei schließlich eine unpolitische Veranstaltung. Drei Versuche brauchte Israel, um bei der EBU mit "Hurricane" schließlich durchzukommen. Doch der Titel wurde zum Omen.
Denn die Teilnahme Israels am ESC in Malmö rief einen Sturm der Entrüstung hervor. Tausende Kunstschaffende und Aktivisten in vielen europäischen Ländern forderten, das Land wegen des Krieges im Gazastreifen von dem Wettbewerb auszuschließen - so wie Russland 2022 nach dem Überfall auf die Ukraine.
Diese Forderungen hat die EBU zurückgewiesen und das auf einer extra eingerichteten Website erklärt. Kurzgefasst lässt sich diese Erklärung so umschreiben: Formell schicken nicht die Staaten beziehungsweise deren Regierungen die Musiker zum ESC, sondern die nationalen TV-Anstalten. Und der israelische Sender KAN verstoße mit seiner Berichterstattung nicht gegen die Werte der öffentlich-rechtlichen Massenmedien, wie das die russischen Sender täten. Diese geben Kreml-Propaganda weiter.
So sei auch ihm das erklärt worden, sagte Isaak, der deutsche Teilnehmer beim ESC 2024. Das habe er akzeptiert, so der Sänger im deutschen Fernsehsender ZDF. Und er hatte gleich einen für ihn typischen deftigen Spruch zur Hand. All jene, die ESC-Teilnehmende beschuldigen, "Mittäter am Genozid im Gaza" zu sein, sofern sie den Eurovision Song Contest nicht boykottierten, fragte er: "Habt ihr Lack gesoffen?" - ein derbes Sprachbild, mit dem man dem Gegenüber eine geistige Verwirrung unterstellt.
Schweden: Weitgefasste Meinungsfreiheit
Anders sehen das rund 5000 Demonstranten, die sich am 9. Mai im Zentrum vom Malmö versammelt hatten - unter ihnen die Umweltaktivistin Greta Thunberg. "Israel aus dem ESC ausschließen - für Frieden und ein freies Palästina" war das Motto der Protestaktion. Viele Demonstrierende trugen typisch palästinensische Tücher und Palästina-Fahnen und warfen Israel Völkermord und Kolonialismus vor. Die EBU bezichtigten sie, sich mitschuldig zu machen an Genozid und Imperialismus. Einige Menschen zeigten Bilder von getöteten palästinensischen Kindern und der Zerstörung im Gazastreifen.
In regelmäßigen Abständen und durch Lautsprecher verstärkt waren Sprüche zu hören, die in Deutschland verboten, aber in Schweden legal sind: "Freies Palästina vom Fluss bis zum Meer" zum Beispiel. Dieser Slogan spricht nach Meinung vieler Kritiker dem Staat Israel das Existenzrecht ab. Doch in Schweden gelten wesentlich liberalere Gesetze in Bezug auf die Meinungsfreiheit als in anderen Staaten der Welt. So hatten die Behörden auch eine Koran-Verbrennung kurz vor Beginn des ESC in Malmö erlaubt. Im September 2023 hatte eine solche Aktion heftige Proteste ausgelöst. Die Demonstration am 9. Mai verlief friedlich.
Malmö: Große Solidarität mit Palästinensern
Um jegliche Eskalation zu vermeiden, zeigt die schwedische Polizei, zum Teil mit automatischen Waffen ausgerüstet, eine enorme Präsenz vor Ort. Malmö ist die drittgrößte Stadt des Landes und viele Einwohner sind islamischen Glaubens. Die Solidarität mit den Palästinensern ist enorm hoch. Auf der Straße, die zum Eurovillage führt, dem Treffpunkt der Fans, sind palästinensische Fahnen in den Fenstern und auf den Balkonen vieler Häuser zu sehen.
Israelische Flaggen zu zeigen - davon hatte wiederum die israelische Regierung selber abgeraten. Am 2. Mai hatte der israelische Sicherheitsrat die Warnstufe für Malmö erhöht und die Fans aufgerufen, sich die Reise zum ESC gut zu überlegen. Viele folgten dem Ratschlag, bestätigte ein Fan der DW. Er erklärte, er trage die israelische Fahne nur innerhalb der Absperrung um die Arena, in der das Musikevent stattfindet.
Die israelische Delegation und ihr Star Eden Golan verlassen das Hotel, das verstärkt bewacht wird, nur zu Proben und Auftritten. Aber auch in der Veranstaltungshalle hat es die 20-jährige Sängerin nicht leicht. Als sie am 9. Mai im zweiten Halbfinale auf die Bühne kam, erntete sie Pfeifen und zahlreiche Buhrufe von Zuschauenden. Einige haben ihr den Rücken zugewandt. Doch viele andere klatschten und begrüßten die Israelin.
ESC: Verzweifelter Versuch, Politik zu verbannen
In der ESC-Blase ist der Krieg im Gazastreifen auch für einige Kunstschaffende ein großes Thema. Neun von 37 Teilnehmenden haben vor dem Wettbewerb einen offenen Brief verfasst, in dem sie einen sofortigen Waffenstillstand fordern. Bambie Thug aus Irland wollte beim Auftritt auf der ESC-Bühne ein Makeup tragen, das entsprechende Symbole transportiert. Das hat die EBU unter Androhung einer Disqualifikation untersagt. Bambie Thug folgte nach eigenem Bekenntnis widerwillig der Aufforderung. Erlaubt sind lediglich die Regenbogenfahne als Bekenntnis zu Diversität und die Fahnen von Teilnehmerländern.
Hochbrisant wird es für die Veranstaltenden, falls Israel den Wettbewerb in Malmö gewinnen sollte. Nach ihrem starken und beinahe perfekten Auftritt im zweiten ESC-Halbfinale katapultierten die Buchmacher Eden Golan auf den zweiten Platz. Nur der Kroate Baby Lasagna hat nach dieser Prognose noch bessere Chancen auf den Sieg am Samstag. Für diesen Tag ist in Malmö übrigens die nächste große propalästinensische Demonstration angekündigt.
Niederländischer Vertreter nicht bei Generalprobe am Freitag
Am frühen Freitagnachmittag gab die EBU bekannt, dass sie einen Vorfall untersuche, in den Joost Klein, der Vertreter der Niederlande beim ESC 2024, verwickelt sein soll: "Er wird bis auf Weiteres nicht proben. Wir haben zu diesem Zeitpunkt keinen weiteren Kommentar und werden zu gegebener Zeit ein Update geben." Klein hatte nicht wie vorgesehen an der ersten Generalprobe am Freitagmittag teilgenommen. Wie angekündigt nahm Klein auch am zweiten Probendurchlauf am Freitagabend nicht teil.
Ob der niederländische Vertreter die Probe verpasste, weil er den ESC boykottieren will, weil er davon ausgeschlossen wurde, oder aus einem anderen Grund, ist bis dato unklar. Klein hatte im Laufe der Woche mehrfach Ablehnung gegen die israelische Teilnahme durchblicken lassen. So hatte er sich am Donnerstag, bei einer Pressekonferenz mit allen für das Finale qualifizierten Künstlern, demonstrativ die niederländische Flagge über den Kopf gezogen, als Eden Golan interviewt wurde.
Am Samstagmorgen wurde bekannt, dass die schwedische Polizei Ermittlungen wegen einer Drohung eines Mannes gegen eine Mitarbeiterin oder einen Mitarbeiter des ESC aufgenommen habe. Ob es sich bei dem mutmaßlichen Täter um Joost Klein handelt, wollte die zuständige Polizeisprecherin nicht kommentieren.
Dieser Artikel erschien am Freitag dem 10. Mai 2024 um 14:20 Uhr und wurde seither mehrfach aktualisiert.