"Mao weiter benötigt als Symbol der Kontinuität"
8. September 2016DW: Wie verlief der Aufstieg Maos zum Führer des kommunistischen Chinas?
Felix Wemheuer: Dazu muss man in die Zeit unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkriegs zurückgehen. Ein großes Thema der republikanischen "Bewegung vom 4. Mai" 1919 war die Frage, wie man China zu einer modernen Nation machen und gleichzeitig den westlichen Imperialismus abwehren kann. In diesem Zusammenhang wenden sich viele Intellektuelle dem Kommunismus und der Sowjetunion zu. Unter anderem auch wegen Enttäuschung über den Versailler Vertrag, bei dem zum Bespiel die Region Shandong (heute Provinz Shandong, Anm. d. Red.) an Japan abgetreten wird.
Auch Mao ist Teil dieser Bewegung und gründet 1921 die Kommunistische Partei. Er ist dabei aber zunächst einer unter mehreren Führern. Zum Führer der Partei und anerkannten Führer der chinesischen Revolution wird er dadurch, dass er erfolgreich die Strategie verfolgt, im Hinterland sogenannte befreite Gebiete mit Guerillastützpunkten zu schaffen und dort einen Gegenstaat zu etablieren. "Vom Land die Städte einnehmen" lautet seine Devise.
Diese Strategie, die Ende der 20er Jahre umgesetzt wurde, war erfolgreich. Und damit setzte sich Mao gegenüber denjenigen Genossen durch, die nach dem Vorbild der Oktoberrevolution zuerst in den Städten Arbeiteraufstände organisieren wollten. Darauf wird sein Personenkult aufgebaut, dass er derjenige war, der den richtigen Weg der chinesischen Revolution entwickelt und letztendlich die KP zur Macht geführt hat.
Was waren weitere Elemente dieses Personenkults?
Mao hat zum einen im innerparteilichen Machtkampf immer stark betont, dass er die chinesischen Verhältnisse besser kennt als alle anderen. Er war vor den 50er Jahren nie im Ausland, war jahrelang auf den Dörfern in den befreiten Gebieten, wo er auch Zeit hatte, ausführliche Untersuchungen zur ländlichen Gesellschaft durchzuführen. Er kannte die chinesischen Dörfer besser als diejenigen, die in Moskau ausgebildet und nach China zurückgeschickt wurden und eigentlich die Parteiführung übernehmen wollten.
Er hat außerdem eine Art Mythos geschaffen, wonach er - um es anhand westlicher Vorbilder auszudrücken - der chinesische Odysseus und Sokrates zugleich ist. Die Odyssee wäre demzufolge der "Lange Marsch", als sich die Partei nach der Niederlage im Süden auf einen mehrere tausend Kilometer langen Marsch begibt und in Yan'an ihr Stützpunktgebiet errichtet. Dort hat Mao in einer Höhle gewohnt und seine philosophischen Schriften verfasst. Und das hat auch dazu geführt, dass er im Westen bei den 68ern als so etwas wie ein platonischer Philosophenkönig verklärt wurde.
Nicht zuletzt war Mao ein meisterhafter Geschichtenerzähler, der es verstand, die Parteigeschichte so schreiben zu lassen, dass sie darauf hinausläuft, dass China nur durch die Mao-Zedong-Ideen gerettet werden konnte.
Können Sie noch etwas näher auf Mao als schreibenden Parteiführer eingehen?
Er hat in seinen Schriften immer wieder Anekdoten aus der chinesischen Geschichte, aus Sagen und Märchen eingebaut. Er entfaltete sein Charisma durch seine Schriften. In China ist die geschriebene Sprache wichtiger als die gesprochene. Mao war kein großer Redner und hat sich auch nur selten in Radioansprachen an das Volk gewandt. Aber seine Schriften wurden zu einer Art Kanon, den alle studieren mussten.
Dazu gehören auch die Kalligraphie und seine Gedichte, die verklausulierte Botschaften enthalten. Er schrieb außerdem im klassischen Stil, auch in den 50er und 60er Jahren, als das eher verpönt war. Seine Kalligraphie versuchen bis heute Leute immer wieder zu kopieren. Es gibt selbstorganisierte Wettbewerbe, wer am beste die Mao-Kalligraphie nachmachen kann. Das knüpft an die Tradition von chinesischen Kaisern an, die ebenfalls Gedichte verfassten. Maos Kalligraphie schmückt auch bis heute die Titelseite der "Volkszeitung".
Nach der Etablierung des Neuen China unter Führung der KP 1949 folgen zwei Ereignisse, die als von Mao verursachte Katastrophen mit millionenfachen Opfern in die Geschichte Chinas im 20. Jahrhundert eingegangen sind...
Richtig. Der "Große Sprung nach vorn" (1958-1961) und die "Große Proletarische Kulturrevolution" (1966-1976). Der "Große Sprung nach vorn" war Teil eines Industrialisierungsprogramms, mit dem man möglichst schnell zum Westen aufholen und Chinas Rückständigkeit überwinden wollte. Mao hat das als Ziel verfolgt, zusammen mit der Errichtung einer kommunistischen Gesellschaft. Und Mao ist katastrophal gescheitert. Sein Ziel war sicher nicht gewesen, Menschen verhungern zu lassen. Aber er hat dann auch wenig getan, als die Hungersnot ausgebrochen war, um möglichst viele zu retten.
Bei der Kulturrevolution hat Mao einige Lehren aus dem Scheitern des Großen Sprungs gezogen, so dass die Wirtschaft nicht zusammenbrach. Es gab einen kleinen wirtschaftlichen Einbruch Anfang 1967. Aber im Prinzip sind Landwirtschaft und Industrie relativ stabil geblieben. Trotz Fraktionskämpfe und politischen Chaos ist die Versorgung nicht noch einmal komplett zusammengebrochen.
Das Paradoxe in seiner Haltung zur Gewalt ist, dass Mao zu Beginn von Kampagnen wie der Bodenreform oder der Kulturrevolution durchaus zu Gewalt etwa gegen Großgrundbesitzer oder Kader animiert hat. Aber wenn das aus dem Ruder läuft, ist er der Einzige, der das wieder stoppen kann. Und das hat dann für viele Opfer zu der paradoxen Lage geführt, dass sie nur von Mao gerettet werden konnten. Und er hat ja während der Kulturrevolution ab Herbst 1966 gesagt, man solle "mit dem Pinsel und nicht mit den Waffen kämpfen", und dann versucht, das Ganze wieder zu stoppen, weil am Ende doch die Stabilität notwendig ist, um die Partei an der Macht zu halten.
Auch Xi Zhongxun, Vater des amtierenden Staatspräsident Chinas Xi Jinping, war Opfer der Kulturrevolution. Fast die ganze heutige Führungsriege kommt aus Kaderfamilien, die während der Kulturrevolution gelitten haben. Aus der eigenen Familiengeschichte hätten diese Leute also viele Gründe zu sagen, Mao war schlecht. Aber sie tun es nicht, weil die Partei immer noch der Meinung ist, dass es für die eigene Legitimation ohne Mao nicht geht.
Was ist für Sie die Bilanz Maos auf dem Gebiet der Außenpolitik?
Dort hat er seine nachhaltigsten Erfolge erzielt. Zwar wurde die nationalistische Regierung der Kuomintang (KMT) nach 1945 als Sieger im Zweiten Weltkrieg hofiert und bekam den Ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat. Aber der Staat unter KMT war sehr schwach und das nationalistische China hat nie Xinjiang oder Tibet beherrschen können. Nach 1949 wird dann unter kommunistischen Vorzeichen das chinesische Reich in den Grenzen der Qing-Dynastie sozusagen wiederhergestellt.
Zuerst müssen die Westmächte ihre ganzen Ansprüche aufgeben. Und dann schafft es China, seine Unabhängigkeit gegenüber der UdSSR durchzusetzen. Und nach der Eskalation des chinesisch-sowjetischen Konflikts macht dann Mao diesen strategischen Schwenk und normalisiert 1972 die Beziehungen zu den USA unter Präsident Richard Nixon. Dadurch wurde in Asien die Bipolarität des Kalten Kriegs schon in den 70er Jahren überwunden, wo es dann um China und die USA gegen die Sowjetunion ging.
Anfang der 60er Jahre war das in der kommunistischen Weltbewegung sozusagen unerhört, dass jemand in Offenen Briefen den sowjetischen Führungsanspruch herausforderte. Dann hat natürlich die Sowjetunion versucht, alle anderen osteuropäischen Staaten auf die Linie gegen China zu bringen. Das gelang dann außer mit Albanien, aber China konnte neben den USA neue Verbündete gewinnen, vor allem in Afrika.
Welche Rolle spielt Mao im China von Xi Jinping?
Xi inszeniert sich mit der Antikorruptionskampagne genau wie Mao als jemand, der zwar der Parteivorsitzende ist, aber auch über der Partei steht. Er inszeniert sich sehr populistisch, indem er im Interesse des Volkes die Korruption in der Partei rücksichtslos bekämpfen möchte. Auch Aussprüche von Xi wie "man soll nicht nur die Fliegen fangen, sondern auch die Tiger" kommen schon bei Mao vor.
Generell sehen wir einen Trend zu starken Männern wie Erdogan, Putin, Trump. Und da passt es irgendwie, dass sich Xi jetzt als großer starker Führer Chinas inszeniert. Meiner Meinung nach greift er dabei auf bestimmte maoistische Floskeln zurück und will auch in gewisser Weise an Maos Charisma anknüpfen, ohne aber eigentlich die maoistischen Inhalte propagieren zu wollen. So spielt die Idee des Klassenkampfs überhaupt keine Rolle. Trotzdem ist für die Partei die Aufrechterhaltung der Kontinuität wichtig. Mao wird als Symbol jetzt wieder wesentlich positiver eingesetzt als noch vor zehn Jahren. Inhaltlich aber wird er mehr oder weniger darauf reduziert, ein starkes und reiches China aufzubauen und sich im internationalen Umfeld zu behaupten.
Felix Wemheuer ist Professor für Moderne China-Studien am Ostasiatischen Seminar der Universität zu Köln und Autor einer 2009 erschienen Biographie über Mao Zedong.