Marokko: Wie wichtig ist Kulturerbe nach Katastrophen?
13. September 2023Noch sind die Angaben über das tatsächliche Ausmaß der Zerstörung durch das Erdbeben in Marokko ungenau. Während die Zahl der Todesopfer steigt und die Hoffnung, dass noch Überlebende gefunden werden, schwindet, gibt es die ersten vorsichtigen Bestandsaufnahmen.
So sind laut Angaben der UNESCO mehrere der insgesamt neun Welterbestätten in Marokko schwer beschädigt worden. Dazu zählen Teile der fast 1000 Jahre alten Medina in Marrakesch (seit 1985 UNESCO-Weltkulturerbe). Auch das wichtigste Wahrzeichen der Stadt, die Koutoubia-Moschee aus dem 12. Jahrhundert, "Spitze von Marrakesch" genannt, ist stark beschädigt worden. Das Minarett der Kharbouch-Moschee ist in sich zusammengestürzt, und das das jüdische Viertel "Mellah" liegt in Trümmern. Die berühmte historische Stadtmauer aus rotem Stein weist zahlreiche Risse und Löcher auf.
Während in Marrakesch längst Aufräumarbeiten begonnen und auch schon die ersten Cafés geöffnet haben, sieht es außerhalb der Stadt erheblich schlimmer aus. Das Epizentrum des Erdbebens liegt in der Provinz Al Haouz im Hohen Atlasgebirge. Hier sind zahlreiche Dörfer verschüttet worden, hier gibt es die meisten Opfer zu beklagen.
Erst die Menschen, dann die Kultur
"Nach einer Katastrophe wie dieser ist es das Wichtigste, Menschenleben zu retten", sagte Eric Falt, der Regionaldirektor des UNESCO-Büros für den Maghreb, dem Magazin "The Art Newspaper". Falt betonte jedoch auch, wie wichtig die Bewertung der Schäden und die Wiederherstellung des materiellen und immateriellen Kulturerbes sei.
Glaubt man zahlreichen Vorher-Nachher-Bildern auf "X" (vormals Twitter), zählt zu den zerstörten Bauwerken auch die Moschee von Tinmal im Atlasgebirge, eines der wichtigsten historischen Gebäude des Landes. "Es ist ein symbolischer Ort in der Geschichte Marokkos", so Falt. Ihre Zerstörung stelle einen unschätzbaren Verlust für das nationale Erbe Marokkos dar. Die Tinmal-Moschee war Anwärterin auf den Titel einer weiteren Weltkulturerbestätte in Marokko.
"Menschen haben kulturelle Rechte"
So sind Vertreter der UNESCO seit Tagen vor Ort, um sich ein Bild von den beschädigten Kulturdenkmälern zu machen. Denn diese haben oft nicht nur für Touristen und Historiker, sondern auch für die betroffenen Menschen vor Ort eine große Bedeutung, erklärt die Präsidentin der internationalen Kulturgutschutzorganisation Blue Shield, Susann Harder, im DW-Gespräch: "Menschen haben kulturelle Rechte. Das heißt nicht, dass sie zwischen Geröll und Tod ins Museum gehen sollen. Aber es ist wichtig, dass sie rituellen Praktiken bei Beerdigungen folgen können oder dass sie gerade in dieser Zeit Gebetsräume außerhalb der zerstörten historischen Moscheen suchen können." Rituale und auch Feste, wo man Gemeinschaft erfahre, könnten Menschen in schwierigen Zeiten Stabilität geben.
Von daher sei Kultur für Menschen, die gerade alles verloren haben, enorm wichtig, so Susann Harder, die Welterbestudien und Ägyptologie studiert hat. Natürlich müsse man nach einer Katastrophe erst mal alle anderen Bedürfnisse erfüllen - kann man noch Menschen retten, ist genug Nahrung und Trinkwasser vorhanden, gibt es einen sicheren Unterschlupf. Aber danach werde der Blick auch für das kulturelle Erbe geöffnet.
Kulturelle Identität wächst durchs Zusammenleben
In Marokko sind das vor allem die Altstädte, die den Welterbetitel errungen haben, wie auch die Altstadt von Marrakesch. Bricht so etwas weg, verlieren die Menschen einen Teil ihrer kulturellen Identität. "Solche Orte sind ja nicht nur von touristischer Bedeutung. Es sind vor allen Dingen Lebensräume," so Harder. "Das Wissen um kulturelles Erbe, das schwingt immer mit, weil diese Strukturen im täglichen Zusammenleben, wie Alltag, wohnen, einkaufen, arbeiten über Jahrhunderte geschaffen worden sind."
Werden solche gewachsenen organischen Strukturen durch Naturkatastrophen oder Kriege beschädigt, verlieren die Menschen nicht nur einen wichtigen Anker, sondern auch einen Teil ihres kulturellen Gedächtnisses. Dies bestätigt auch ein Einwohner Marrakeschs gegenüber einem Reporter der Zeitung "The National": "Es ist ein Schock. Unsere Identität wird durch diese Stätten definiert."