Indonesien strebt nach "Kultur der Toleranz"
21. Februar 2017DW: Im Zusammenhang mit Indonesien wird immer häufiger über zunehmende religiöse Radikalisierung berichtet. Was sagen Sie dazu?
Retno Marsudi: Radikalisierung ist nicht nur das Problem eines einzelnen Landes. Die Bedrohung durch Radikalisierung und Terrorismus ist eine Herausforderung für fast alle Länder heutzutage. Die Bedrohung durch den Terrorismus ist eine der größten Bedrohungen des Weltfriedens. Im Jahr 2015 waren der sogenannte IS und ihm sympathisierende Gruppen für Anschläge in 28 Ländern verantwortlich. Das waren doppelt so viele wie 2014. Eine weitere Zahl: In den vergangenen 16 Jahren gab es in 93 Ländern Terrorangriffe mit insgesamt 32.000 Toten. Es gibt also kein Land, das gegen Terrorismus immun wäre.
Jetzt zu Indonesien: Indonesien ist ein Beispiel dafür, wie das Land, das die größte muslimischen Bevölkerung und gleichzeitig eine sehr heterogene Gesellschaft hat, versucht, eine Kultur der Toleranz zu leben. Seit der Gründung des indonesischen Staates sind wir Indonesier uns dessen bewusst, dass wir alle einen unterschiedlichen ethnischen und religiösen Hintergrund haben, dennoch wollen wir alle in einem indonesischen Staat leben. Trotz dieser Kultur der Toleranz ist Indonesien mit Radikalisierung und Terrorbedrohung konfrontiert. Bislang hat Indonesien aber die Lage unter Kontrolle. Indonesien versucht dabei zwei Dinge im Gleichgewicht zu halten. Die meisten Länder verlassen sich beim Kampf gegen Radikalisierung und Terrorismus alleine auf "hard power". In Indonesien setzen wir dagegen auch auf "soft power" als Gegengewicht. Und das mit großem Erfolg.
Befürchten Sie, dass Berichte über eine zunehmende Radikalisierung in Indonesien ausländische Investoren abschrecken könnten?
Ich glaube nicht, dass internationale Investoren Furcht vor Radikalisierung in Indonesien haben. Denn alle wissen, dass diese Bedrohung überall existiert. Der Präsident Indonesiens hat stets betont, dass die indonesische Wirtschaft offen und wettbewerbsfähig werden muss. Allein in den vergangenen 12 Monaten haben wir ein Paket von 14 wirtschaftlichen Reformmaßnahmen auf den Weg gebracht. Wir hoffen, dass dies zu einer signifikanten Steigerung ausländischer Investitionen führen wird.
Zu einem anderen Thema: Was kann Indonesien tun, um zur Lösung der Minderheitenproblematik in den muslimischen Regionen Myanmars und der Flüchtlingskrise beizutragen?
Myanmar gehört wie Indonesien zum südostasiatischen Staatenbund ASEAN. Was in Myanmar passiert, hat Auswirkungen auf die Region. Es gibt nur zwei Optionen: Wir helfen Myanmar, oder wir tun es nicht. Indonesien hat sich dafür entschieden, sich konstruktiv und aktiv in Myanmar zu engagieren. Wir haben verstanden, dass es in dem Land Probleme gibt. Dass es dort eine Situation gibt, die zu einer humanitären Krise führte. Dass es Sorgen um die Sicherheit im Rakhine-Staat gibt. Wir senden an Myanmar weiterhin die Botschaft aus, dass uns das beschäftigt.
Indonesien hat Myanmar ebenfalls zu verstehen gegeben, dass es im Rakhine-Staat eine (für eine friedliche Lösung Anm. d. Red.) zuträgliche Situation herstellen muss. Wir haben Myanmar zu verstehen gegeben, wie wichtig es ist, die Menschenrechte aller Gesellschaftsgruppen zu respektieren und zu schützen, darunter auch die der muslimischen Bevölkerungsgruppen. Wir haben ebenfalls gegenüber Myanmar sehr deutlich erklärt, wie wichtig eine wirtschaftliche Entwicklung ist, die allen Bevölkerungsgruppen zugute kommt.
Aus unserer Sicht ist der Begriff "inclusive", also alle einschließend, ein Kernbegriff für die Entwicklung des Rakhine-Staates. Meine Kollegon Aung Suu Kyi sagte, dass Rakhine einer der ärmsten Staaten Myanmars sei. Wir haben uns für konstruktive Zusammenarbeit mit Myanamr entschlossen. Wir engagieren uns für Myanmar, wir teilen unsere Sorgen und unsere Kritik mit, und wir bieten Myanmar unsere Hilfe an.
Ich bin in den vergangenen zwei Monaten drei Mal nach Myanmar gereist. Ich war auch in Dhaka und in Cox's Bazar, (wo sich das größte Lager Bangladeschs für Flüchtlinge aus Myanmar befindet Anm. d. Red.). Ich war auch in Sittwe, ich habe mit Kofi Annan gesprochen und mit einer Reihe weiterer Personen, die bei diesem Thema engagiert sind. Wir möchten Myanmar nicht nur dabei helfen, die Probleme im Rakhine-Staat anzugehen. Wir leisten humanitäre Hilfe, und wir würden gerne noch weitergehen und mittel- und langfristige Unterstützung leisten.
Retno Marsudi (55) ist Außenministerin der Republik Indonesien. Sie ist die erste Frau in diesem Amt in der Geschichte Indonesiens. Früher war sie indonesische Botschafterin in den Niederlanden, Norwegen und Island.
Das Interview führte Vidi Legowo-Zipperer.