Massive Überschwemmungen in Brasilien: Was lief falsch?
16. Mai 2024Als die Regenfälle einsetzten, befand sich Roberlaine Ribeiro Jorge gerade auf einer Dienstreise in Europa und den USA. Bei seiner Rückkehr fand der Universitätsprofessor seinen Heimatbundesstaat Rio Grande do Sul in einem bedauernswerten Zustand vor. "Unterwegs dachte ich erst: 'Wieder einmal eine Starkregen-Phase'. Aber solche Ausmaße hatte ich mir nicht vorstellen können", sagt der Experte für Wasserressourcen und Umwelthygiene. "Ich arbeite ja in dem Bereich, aber die Dimensionen haben mich geschockt."
Die seit mehreren Wochen andauernden Überschwemmungen sind die schlimmsten in der Geschichte von Rio Grande do Sul im Süden Brasiliens. An die 150 bestätigte Todesopfer gibt es mittlerweile und fast noch einmal so viele Vermisste. Hunderttausende Menschen mussten wegen der Überschwemmungen ihre Häuser verlassen, das öffentliche Leben ist weitgehend lahmgelegt. Insgesamt sind mehr als zwei Millionen Menschen von der Naturkatastrophe betroffen - und es regnet weiter.
Extremwetterereignisse wie Hitzewellen und Starkregen kommen in Brasilien, auch im Süden des Landes, immer wieder vor, allein in den vergangenen Monaten gab es eine ganze Reihe. Die Erderwärmung verstärkt Wetterextreme bekanntermaßen; bekannt ist auch, dass sie derzeit in der Region durch das Klimaphänomen El Niño noch verstärkt werden. Deshalb stellt sich die Frage: Hätte man besser vorbereitet sein müssen?
"Wir brauchen einen besseren Zivil- und Katastrophenschutz"
Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva selbst hat bereits Defizite beim Katastrophenschutz eingeräumt. Auf eine Katastrophe von diesem Ausmaß sei das Land "nicht vorbereitet" gewesen, sagte Lula am Montag. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Quaest glaubt auch eine Mehrheit der Brasilianerinnen und Brasilianer, dass die Tragödie hätte verhindert werden können.
Aber wo liegen die Versäumnisse genau? Meteorologische Warnungen, dass es zu starken Regenfällen kommen würde, habe es etwa fünf Tage vorher gegeben, erklärt Gean Michel, Professor am Institut für Hydraulikforschung an der Bundesuniversität Rio Grande do Sul (UFRGS). Doch bis zum tatsächlichen Einsetzen des Starkregens am 29. April sei wenig passiert - und auch die längerfristige Vorbereitung auf Extremwetterereignisse sei mangelhaft gewesen.
"Dafür gibt es absolut keine Rechtfertigung", findet Michel. "Wir brauchen einen besseren Zivil- und Katastrophenschutz." Nachdem Brasilien 2011 die bislang schlimmste Flutkatastrophe seiner Geschichte mit über 500 Toten erlebt hatte, wurde der Katastrophenschutz zwar 2012 in einem nationalen Gesetz verankert. "Doch es hapert an der Umsetzung", bemängelt der Experte für Umweltkatastrophen. Gerade in kleinen Gemeinden bestehe das Zivilschutzsekretariat oft nur aus einer Person, die wenig bis gar keine Erfahrung im Katastrophenrisikomanagement habe - und nach vier Jahren beginne das Ganze von vorne, wenn der Posten wieder neu besetzt wird.
Deiche, Schleusen und Pumpen nicht instandgehalten
Auch in baulicher Hinsicht haben sich während der aktuellen Katastrophe in Rio Grande do Sul Probleme offenbart: Eigentlich vorhandene Strukturen zum Schutz vor Hochwasser, unter anderem Deiche, Schleusen und Pumpen, wurden über Jahrzehnte nicht ordentlich instandgehalten oder erneuert. "In Porto Alegre hätten sie Hochwasser von bis zu sechs Metern standhalten sollen", erklärt Roberlaine Jorge, der an der Bundesuniversität Pampa doziert. "Aber die Systeme haben schon bei dem erreichten Pegel von 5,35 Metern versagt."
So hätten etwa die Pumpen das Wasser nicht aus der Stadt pumpen können, weil sie überflutet wurden und unter Wasser nicht mehr funktionieren. Dabei ist die Technologie längst weiter: Im Reisanbau etwa, ein großer Wirtschaftsfaktor in Rio Grande do Sul, sind mittlerweile Pumpen im Einsatz, die sich in einer Art Schlauchboot befinden und bei steigendem Pegel mit nach oben steigen.
Der Experte hält zudem Veränderungen im Bereich der Städteplanung für notwendig. Viele Menschen würden, oft auch entgegen der Vorschriften, zu nah am Wasser leben. Ingenieure, Architekten und Umweltschützer müssten sich verstärkt fragen, wie Verstädterung und Bodenversiegelung zukünftig besser gehandhabt werden könnten.
Umdenken notwendig
Nicht zuletzt müsse sich auch im Bewusstsein der Bevölkerung etwas ändern, ist Jorge überzeugt: "Viele Menschen sind leider gestorben, weil sie zu lange ausgeharrt haben. Wir müssen verstehen, dass unser Leben wichtiger als andere ist, als ein Auto, ein Haus." Gean Michel spricht von einer "Präventionskultur", die etwa in Japan angesichts vieler Erdbeben und Tsunamis sehr ausgeprägt sei, in Brasilien aber noch in den Kinderschuhen stecke. Die Bevölkerung müsse mehr darüber wissen, wie sie Risiken verringern könne und sich in bestimmten Situationen zu verhalten habe.
Einen alleinigen Hauptverantwortlichen für die verheerenden Überschwemmungen will Michel nicht ausmachen. Aber "auf Bundesebene hätte mehr investiert werden sollen. Nach dem Schock von 2011 wurde einige Jahre mehr Geld ausgegeben, aber vor allem die Regierungen Temer und Bolsonaro reduzierten die Investitionen wieder stark. Auf Landesebene hätte es einer besseren Organisation bedurft. Und auf kommunaler Ebene hätte man die Anforderungen besser umsetzen müssen."
Dass der Starkregen in Rio Grande do Sul so viel Schaden anrichten konnte und so viele Menschenleben gekostet hat, ist letzten Endes dem Zusammenspiel vieler verschiedener Komponenten geschuldet. Bleibt die Hoffnung, dass die Umweltkatastrophe zu einem nachhaltigen Umdenken in der Politik führt statt zu einem - wie oftmals in der Vergangenheit - nur vorübergehenden.