"Mit Index verliert Ungarn eine Institution"
29. Juli 2020Dr. Ágnes Urbán, Jahrgang 1974, ist eine der führenden ungarischen Medienexpertinnen. Sie studierte Volkswirtschaft an der Budapester Corvinus Universität und forscht seit vielen Jahren über Medienökonomie, Medienkonsum und Medien-Geschäftsmodelle in Ungarn. Seit 2012 leitet sie den Lehrstuhl für Infokommunikation an der Corvinus Universität. Sie ist Expertin von "Mérték Médiaelemző Műhely" (Maßstab Medienanalytische Werkstatt), des wichtigsten ungarischen medienanalytischen Forschungszentrums.
DW: Frau Urbán, in der vergangenen Woche wurde der Chefredakteur von Index, Szabolcs Dull, entlassen. Aus Protest dagegen kündigten fast alle Redakteure. Kann man sagen, Index existiert nicht mehr?
Ágnes Urbán: Index war nicht einfach nur ein Portal, es war das größte Medium und die stärkste Online-Marke Ungarns. Vor allem war Index auch eine Institution. Formal und technisch wird Index als Portal sicher erhalten bleiben, aber in der Form, wie wir Index kannten, wird es nicht mehr existieren.
Es gab in den vergangenen zehn Jahren zahlreiche einschneidende politische Ereignisse auf dem ungarischen Medienmarkt . Wie ordnen Sie in diesem Zusammenhang den Index-Skandal ein?
Urbán: Es ist ein Wendepunkt. Eine derart starke Medienmarke wie Index konnte die Regierung bisher nicht in ihre Hände bekommen. Vergleichbar ist das vielleicht nur mit dem Fall des Fernsehsenders TV2, aber der arbeitet im Unterhaltungssektor, nicht auf dem Nachrichtenmarkt.
Die Regierung bestreitet, irgendetwas mit der Index-Affäre zu tun zu haben. Ist das glaubwürdig?
Urbán: Nein, absolut nicht. Seit 2018 sind regierungsnahe Unternehmer Miteigentümer bei Index, im März dieses Jahres übernahm Miklós Vaszily 50 Prozent der Anteile von Indamedia, der Werbefirma, die für Index die Einnahmen generiert. Vaszily ist ein Schwergewicht in der regierungsnahen Presse, er war Generaldirektor der öffentlich-rechtlichen Medien und in einer Reihe privater regierungsnaher Medien. Er hat die unabhängige Redaktion von Origo aufgelöst und das Portal auf Regierungslinie gebracht. Es ist ganz klar, dass die Regierung nicht behaupten kann, sie hätte mit der ganzen Sache nichts zu tun.
Regierungsmedien beschuldigen den entlassenen Chefredakteur Szabolcs Dull, Index mit Hilfe linker Politiker zerschlagen zu haben. Was sagen Sie dazu?
Urbán: Die regierungsnahen Medien wurden von den Ereignissen überrumpelt und konnten sich tagelang keinen Reim darauf machen. Erst schwiegen sie, dann haben sie sich ausgedacht, linke Oppositionsparteien würden hinter der ganzen Sache stecken. Dabei hat ihnen auch geholfen, dass eine liberale Oppositionspartei wegen der Index-Affäre eine Protestdemonstration organisiert hat. Aber das ist natürlich ein völlig verrücktes Narrativ. Warum sollte die Opposition das größte unabhängige Medium zerschlagen? Sie würde sich damit, beispielsweise mit Blick auf die Wahl in zwei Jahren, nur selbst schaden. Und selbst wenn die Opposition etwas Derartiges bezwecken würde, wäre sie kaum fähig dazu, wenn man bedenkt, dass sie im vergangenen Jahrzehnt praktisch kaum etwas Vernünftiges auf die Reihe bekommen hat.
Ein ähnliches massenwirksames Medium wie Index gibt es nicht mehr in Ungarn. Ist nun die Pressefreiheit symbolisch am Ende?
Urbán: Dieser Satz ist ja auch schon gefallen, als die Tageszeitung "Népszabadság" im Herbst 2016 über Nacht geschlossen wurde. Aber wenn man eines Tages zurückblicken wird, dann wird man, glaube ich, sagen können, dass die jetzigen Ereignisse um Index der wirkliche symbolische Wendepunkt in der Geschichte der Pressefreiheit in Ungarn sind.
Was verliert Ungarn mit Index?
Urbán: Index war eines der wichtigsten Elemente der ungarischen Öffentlichkeit. Es war die wichtigste Nachrichtenquelle für eine ganze Generation und ein Nachrichtenportal mit täglich einer Million Besuchern. Heute wäre ein ähnlich starker Player in Ungarn unvorstellbar. Index ist gleichaltrig mit dem ungarischen Internet, es ist praktisch gleichzeitig mit dem gesamten ungarischen Online-Bereich gewachsen. Mehr noch: Für viele Ungarn war Index gleichbedeutend mit dem Internet. Ganz sicher wird es so etwas wie Index in Ungarn nicht noch einmal geben. Und das ist eben jetzt verloren.
Die EU-Kommission hat aktuell wegen der Ereignisse um Index mehrfach ihre Besorgnis über den Zustand der Pressefreiheit in Ungarn ausgedrückt. Kann die EU etwas tun?
Urbán: Ja, durchaus. Es war unter anderem unser medienanalytisches Zentrum, das 2016 und 2019 bei der EU Klage eingereicht hat gegen die verzerrten Wettbewerbsbedingungen auf dem ungarischen Medienmarkt, unter anderem wegen der selektiven Vergabe staatlicher Werbung. Wenn die EU-Kommission dies ernsthaft untersuchen würde, dann könnte sie einiges tun, um die Pressefreiheit in Ungarn wiederherzustellen. Die Mittel sind in ihrer Hand. Warum sie diese nicht nutzt, kann ich nicht sagen.
Welche Ausrichtung wird Index künftig haben?
Urbán: Ich glaube, es wird keine neue Propagandaseite werden, denn darüber würden die meisten nur lachen, so wie im Fall des einst unabhängigen Portals Origo. Ich denke, man wird versuchen, aus Index etwas zu machen, das wie das alte Index wirkt, mit relevanten Nachrichten. Aber man wird darauf achten, dass es keine investigativen Berichte gibt, und man wird auch darauf achten, dass für Fidesz (die Regierungspartei von Viktor Orbán - Anm. d. Red.) peinliche Skandale nur noch Randthemen sind.
Der Eigentümer des Nachrichtenportals 24.hu, Zoltán Varga, hat in einem Interview gesagt, sein Medium stehe ebenfalls unter Druck. Was könnten die nächsten Maßnahmen der Regierung sein?
Urbán: Wahrscheinlich schätzt Varga die Dinge richtig ein. Denn das Portal 24.hu hat eine bedeutende Leserschaft, es ist das zweitgrößte nach Index, auch wenn es bei weitem nicht die Bedeutung von Index hat. Ich denke, es wird jetzt erst einmal etwas ruhiger werden, denn an Dauerskandalen ist auch Fidesz nicht interessiert. Aber langfristig wird es keine Ruhe an der Medienfront geben.