Zehntausende flüchten auf die Kanaren
28. November 2021Gute Neuigkeiten von den Küstengewässern Senegals sind dieser Tage ein wertvolles Gut. So ist es der senegalesischen Armee Anfang November gelungen, alle 82 Insassen eines vor der Küste havarierten Boots zu bergen.
Die aus Gambia aufgebrochene Piroge sollte offenbar Menschen zu den Kanaren bringen. Es ist eine Migration, die fatale Folgen hat: Wöchentlich gibt es neue Informationen über Menschen, die auf der gefährlichen Seeroute zu der spanischen Inselgruppe ihr Leben verloren haben. Man benötige dringend mehr Personal, forderte kürzlich der Vorsitzende des Ausschusses für die spanische Seenotrettungsflotte, Ismael Furió. Es gebe Zeiten, "in denen sie nicht in der Lage sind, alle Menschen aus dem Wasser zu holen, so dass diese ins Meer fallen und schließlich ertrinken", zitierte ihn am Sonntag die Nachrichtenplattform "Crónicas de Lanzarote".
Mörderischer Atlantik
Tatsächlich haben sich in den Jahren 2020 und 2021 laut Zahlen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) ungleich mehr Menschen von der westafrikanischen Küste in Richtung der Kanarischen Inseln aufgemacht als in den Vorjahren - meist in schlichten Pirogen, die nicht hochseetauglich sind.
23.000 Menschen erreichten demnach im vergangenen Jahr die Inseln, bis 22. November 2021 wurden schon mehr als 19.000 Menschen gezählt. 849 Menschen wurden laut IOM im Vorjahr tot oder vermisst gemeldet, eine Zahl, die in diesem Jahr mit 909 schon deutlich übertroffen wurde. Aber das seien vorsichtige Angaben mit einer hohen Dunkelziffer, wie Oussama Elbaroudi, IOM-Mitarbeiter in Spanien, im DW-Gespräch betont: "Die einzige Gewissheit, die wir haben, ist, dass dies die niedrigsten Schätzungen sind. Es gibt leider sehr, sehr viele Boote, die verloren gehen, ohne dass wir es erfahren", sagt Elbaroudi im DW-Gespräch.
Die Menschenrechtsorganisationen wie Caminando Fronteras, die im engen Kontakt mit den Geflüchteten steht, gibt die Zahlen ungefähr doppelt so hoch an. Völlig unklar, wie viele es versuchen. Wie viele scheitern eigentlich vorher?
"Es ist absolut nicht sicher und es ist super gefährlich - egal, wo", sagt Meeresforscher Johannes Karstensen der DW. "Gefährlich für solche kleinen Boote, die dort herumtreiben, sind Winde und Strömungen und kleine Wellen, die sich lokal bilden und die so eine Überfahrt ganz schlimm machen. Und wenn diese Boote dann überladen sind - sei es im Mittelmeer oder im Atlantik - geht das immer nach hinten los."
Einer, der die lebensgefährliche Reise auf sich genommen hat, ist Mbaye Babacar Diouf. 2003, zu Beginn der ersten großen Migrationswelle über die Kanaren, machte sich der damals 15-Jährige im Senegal in einer Piroge mit 138 Menschen auf den Weg. "Wir wussten nicht, was wir taten", sagt er in einem Podcast des internationalen Medienprojekts "InfoMigrants", an dem auch die DW beteiligt ist. Die Reise dauerte zehn Tage. "Am achten Tag sahen wir Menschen, die in ihrem Boot gestorben waren. Es waren Menschen, die sich eine Woche vor uns auf den Weg gemacht hatten." Irgendwie gelang es Diouf und seinen Mitreisenden, die Panik zu überwinden und Teneriffa zu erreichen.
Selbst auf kürzestem Weg trennen mehr als hundert Kilometer Atlantik die Kanarischen Inseln auf Höhe von Marokko vom Festland. "Natürlich sind die Seerouten von Marokko und Westsahara sehr riskant. Aber sie sind immer noch sehr viel weniger gefährlich als von Senegal, Gambia oder Guinea", sagt Oussama Elbaroudi. Rund 1400 Kilometer beträgt die Strecke schon von Saint-Louis, dem nördlichsten Hafen Senegals, zwei Wochen auf hoher See sind keine Seltenheit. "Dazu kommt, dass die Boote aus Mauretanien, Senegal und Gambia viel voller beladen und die Fahrt damit sehr viel riskanter ist - besonders jetzt, wo die Wetterbedingungen nicht optimal sind."
Die Treiber der Flucht
Doch warum begeben sich Menschen auf diese gefährliche Route? Seit 2020 erreichen auf diesem Weg etwas mehr Menschen Spanien als über das Mittelmeer. Die westliche Mittelmeer-Route sei besser überwacht - dort habe die Küstenwache mehr Menschen abgefangen, sagt Elbaroudi. Dies sei ein Grund für Schlepper gewesen, ihre Tätigkeiten auf die Kanaren zu verlagern. Die Menschen, die auf diesem Weg fliehen, stammen vor allem aus den Ländern an der Atlantikküste zwischen Marokko und Guinea und aus Mali, so schätzt es die IOM anhand zahlreicher Begegnungen.
Alarmierend ist, dass immer mehr Frauen und Kinder unter den Toten sind - ein Hinweis, dass sich nicht mehr nur arbeitssuchende junge Männer, sondern ganze Familien auf den Weg machen. Die Gründe lägen entscheidend in den Auswirkungen der Corona-Pandemie, schätzt Elbaroudi: So hätten etwa die Bewegungseinschränkungen die lokale Wirtschaft belastet und Existenzen zerstört. Auch die Unsicherheit in der Region und die sich verstärkenden Auswirkungen der Klimakrise spielten hinein.
Eine IOM-Studie im Senegal von 2019, vor Beginn der Pandemie, ergab, dass ein großer Teil der Befragten eine Überfahrt zu den Kanaren ins Auge fasste - trotz der hohen Risiken. Ähnliches erfuhr die DW bei Gesprächen mit jungen Menschen in Thiaroye-sur-Mer, einem Fischerdorf am Rande der Hauptstadt Dakar. "Die Menschen sind vom Leben enttäuscht worden. Sie verstecken es nicht mehr", sagt ein junger Mann. So hofften sie, ihr Leben zu verbessern. "Viele kommen nicht an, aber andere schon. Und wenn sie zurückgebracht werden, versuchen sie es wieder. Ich glaube, sie haben keine Angst mehr zu sterben. Sie haben schon alles gesehen."
Moustapha Diouf hat sich anders entschieden. Er hatte die Überfahrt geschafft und war zurückgewiesen worden. Dann gründete er 2006 eine Organisation von Rückkehrern. Sein Ziel: Möglichst vielen Menschen eine Perspektive in der Heimat bieten.
Mitarbeit: Uta Steinwehr