Sehnsuchtsziel Großbritannien
6. August 2021Der junge Mann sitzt auf einer Decke direkt neben einem Kreisverkehr, nur ein paar Meter von der Fahrbahn entfernt. Zu seiner Linken seine Frau. Zwei kleine Kinder schauen fragend drein. Sie kämen aus Eritrea, erzählt er auf Deutsch. Ihre Asylanträge in Deutschland seien abgelehnt worden, deshalb seien sie jetzt hier am Rande von Calais im Norden Frankreichs.
Um die Familie hocken rund hundert weitere Migranten und Geflüchtete. Vor allem junge Männer aus dem Sudan und dem Iran, aber auch eine Frau aus Kuwait mit ihren fünf Kindern. Ein paar stehen für Essen an, das eine Hilfsorganisation gerade verteilt. Andere drängen sich um die Handyladestation.
Ein bisschen abseits in den Büschen haben einige ein kleines Lager aufgeschlagen. Auf dem Boden liegen Isomatten, ein Teppich, ein paar Schlafsäcke. Mohaned, ein 19-jähriger Sudanese, zeigt auf ein Stück Pappe, auf dem er schläft. Die Polizei habe ihnen erst in der vergangenen Nacht wieder die Zelte weggenommen. Ein Vorgehen, das NGOs, französische Medien und auch ein Polizist vor Ort bestätigen. Die französischen Behörden wollen mit allen Mitteln verhindern, dass sich in der Hafenstadt erneut feste Camps bilden - wie der berüchtigte "Dschungel" von Calais, der 2016 geräumt wurde.
Zwar gibt es in Frankreich auch feste Unterkünfte für Migranten, viele aber wollen lieber rund um die Küstenstadt Calais ausharren. Denn von hier aus ist die Chance am größten, es nach Großbritannien zu schaffen. An der engsten Stelle sind es von Nordfrankreich nach Südengland nur rund 30 Kilometer.
Hoffnung Großbritannien
Mohaned erzählt, er habe es schon fünf Mal versucht, sei aber immer von französischen Grenzschützern aufgehalten worden. "Ich habe Verwandte im Vereinigten Königreich", sagt er. "Sie sagen, dass es dort besser ist als in Frankreich. Hier respektieren sie schwarze Menschen nicht."
Vielen Migranten an der französischen Küste geht es ähnlich wie Mohaned. Entweder haben EU-Länder ihre Asylanträge abgelehnt, oder sie wollen es woanders erst gar nicht versuchen und setzen all ihre Hoffnung auf eine bessere Zukunft in Großbritannien.
Um dorthin zu kommen, begeben sich inzwischen Tausende auf die gefährliche Reise über den Ärmelkanal. Die meisten bezahlen Schleuser, um es nachts oder in den frühen Morgenstunden in Schlauchbooten illegal zu versuchen.
Die für die Nordsee zuständige französische Meer-Behörde Préfecture Maritime hat bis Ende Juli dieses Jahres 556 versuchte oder tatsächliche Überfahren registriert. Insgesamt waren 12.148 Migranten involviert. Das britische Innenministerium bestätigte die Ankunft von mehr als 400 Menschen an der englischen Küste an einem Julitag allein.
2020 sind demnach 8500 Migranten mit Booten über den Ärmelkanal nach Großbritannien eingereist. Die französischen Behörden sprechen von 9500 Menschen, die sich auf die gefährliche Reise gemacht hätten. Viel mehr als noch 2019.
Frankreich baut Grenzkontrollen aus
Die Tatsache, dass mehr Menschen den Weg übers Meer wählen, bedeutet allerdings nicht zwangsläufig, dass mehr Migranten auf die Insel einreisen. Während 2020 die Hälfte aller Einwanderer per Boot ankam, waren es 2019 gerade einmal elf Prozent. Ein Grund: LKWs und der Eurotunnel zwischen England und Frankreich werden stärker kontrolliert.
Frankreich hat deswegen parallel zu Kontrollen auf den Straßen und in den Häfen auch die Kontrollen auf See hochgefahren. Die Gendarmerie Nationale, eine Art Militärpolizei, patrouilliert jeden Tag an der Küste und, wenn das Wetter gut ist, auch auf See. Ludovic Caulier, stellvertrender Kommandant der Gendarmerie in Calais, führt die Mission an diesem Augusttag an.
Sein Team fährt mit zwei Booten am frühen Morgen die Küste ab, von Calais in das - auf dem Landweg gut 40 Kilometer entfernte - Boulogne-sur-Mer. Von ihrem Boot aus hätten sie eine gute Übersicht darüber, was sich am Strand abspiele, sagt Caulier. "Unser Ziel ist es, dafür zu sorgen, dass sie nicht aufs Meer gehen. Die Nordsee ist sehr gefährlich."
Während das Boot übers Wasser prescht, blickt Caulier durchs Fernglas auf die Küste. Plötzlich gibt er seinen Kollegen ein Zeichen, der Kapitän drosselt die Geschwindigkeit. Am Strand erspähen sie einige Menschen. Über Funk spricht Caulier mit der Mannschaft an Land. Nur ein Fotoshooting, kein Aufbruchsversuch. Auch ansonsten bleibt es in dieser Schicht ruhig für das Team. Die Kollegen an der Küste aber haben am Morgen eine Gruppe Migranten von der Überfahrt abgehalten.
Kurz später, in Boulogne-sur-Mer, steigt Dominique Consille zu, eine lokale Vertreterin des französischen Staats in der Gegend. Sie will sich anschauen, wie die Mission arbeitet. Aus ihrer Sicht sind Kontrollboote auf dem Meer absolut essentiell, lebensrettend: "Wir haben es mit sehr gut organisierten Schleusernetzwerken zu tun, die Migrantenfamilien in Gefahr bringen und viel Geld für die Überfahrt nehmen", sagt Consille. Es sei daher wichtig, diese Netzwerke zu zerstören.
Großbritannien baut auf härtere Gesetze
Die britische Regierung hat erst vor kurzem zugesagt, den französischen Kampf gegen Schleuser und mehr Grenzkontrollen finanziell zu unterstützen: mit fast 63 Millionen Euro für 2021 und 2022.
Ein Schritt, den Hilfsorganisationen in Calais sehr kritisch sehen. Pierre Roques von der Nichtregierungsorganisation "Utopia 56" ist sich sicher, dass mehr Kontrollen und mehr Sicherheit die - aus seiner Sicht - katastrophale Lage in der Region nicht verbessern. "Unsere Grenzen sind doch keine Türe", sagt er. "Die Küste ist sehr lang. Man kann da nicht einen Polizisten pro Quadratmeter stationieren." Das Handeln der französischen Behörden sei nur "Sicherheits-PR". Migranten würde das nicht davon abhalten, sich auf den Weg zu machen. "Sie sind nur gezwungen, höhere Risiken einzugehen." Er fordert legale und sichere Einreisewege für Migranten und Geflüchtete.
Großbritannien hingegen verschärft gerade seine Gesetze. Geflüchteten und Migranten droht nun eine Haftstrafe, wenn sie illegal die Grenze überqueren.
Roques packt gespendete Kleidung in Kisten. Neben ihm sortiert eine junge Frau Lebensmittel. In der Nacht wollen sie wieder los und alles verteilen. Auch zu dem Ort am Kreisverkehr, wo Mohaned aus dem Sudan und die Familie aus Eritrea warten und darauf hoffen, so bald wie möglich nach Großbritannien zu kommen.