"Wir sind da, um es zu schaffen"
16. September 2016Es ist meine dritte Station am Mittelmeer dieses Jahr: Athen. Griechenland. Hier sitze ich nun am Schreibtisch, nach stundenlangen Gesprächen über Demokratie und Migration. Es wirkt immer etwas einfacher aus der Ferne. Ich denke an die Tage in Kroatien und Barcelona zurück. Die letzten Meldungen aus Deutschland waren dort noch, dass die Menschen in Mecklenburg-Vorpommern Angela Merkels Politik abgestraft haben. Demokratie, könnte man achselzuckend sagen. Wenn es nicht um Grundrechte ginge und Deutschland nicht viel zu verlieren hätte. Die AfD ist - wieder - zweitstärkste Partei geworden. Ja, auch das ist Demokratie. Aber, und das wird unter den Ruinen der Akropolis deutlich, ist Demokratie eigentlich ohne Zeit für Diskussionen, ohne den Raum, Informationen zu verarbeiten - ohne den direkten Draht zu den Regierenden. Wer vermittelt?
Deutschlands Politik wird hier als vorbildlich angesehen, als Meilenstein für die Menschenrechte. Gleichzeitig scheinen viele Bürgerinnen und Bürger in Deutschland das selbst nicht richtig zu finden. Immerhin 82 Prozent wünschen sich einen Kurswechsel von ihrer Kanzlerin. Auch deshalb hat es die kleine Wahl in Mecklenburg-Vorpommern in die internationale Berichterstattung geschafft und eine Lawine von Kolumnen und Analysen ausgelöst. Was passiert nur, wenn Deutschland plötzlich andere Wege geht als die letzten Jahrzehnte? Seit Adenauer wurde Deutschland von Politikern geführt, die sich als Europäer verstanden, das europäische Projekt vorantrieben. Deutschland ist bis heute eines der wenigen Länder Europas, in dessen Parlament keine rechte Partei sitzt. Deutschland war stolz darauf. Im restlichen Europa war man beruhigt darüber. Es hatte lange den Anschein, Deutschland habe durch die Aufarbeitung der eigenen Geschichte vieles richtig gemacht. Doch in den letzten Monaten überrollt sich der deutsche Diskurs selbst. Es scheint keine Grenzen des schlechten Tons mehr zu geben. Mit dem neuen Papier der CSU hat sich der Ton weiter verschärft.
In der spanischen Zeitung La Vanguardia lese ich einen politischen Kommentar, der mir zeigt, dass Deutschland von seinen Nachbarstaaten immer auch im Spiegel seiner Vergangenheit gesehen wird. Der Einzug einer rechten Partei ins deutsche Parlament wäre ein weiterer Schritt hin zu einem anderen Europa, lese ich. Und frage mich, wieso ein Land, das so erfolgreich Integration betrieben hat, so wenig stolz auf sich ist. So wenig Zuversicht zu vermitteln weiß.
Der moralische Deutsche und der demoralisierte Deutsche
In Mecklenburg-Vorpommern leben kaum Ausländer, kaum Menschen mit Migrationshintergrund. Es ist eines der homogensten Länder Deutschlands, doch selbst hier kann man mit einer xenophoben Agenda zweitstärkste Partei werden. La Vanguardia zitiert Ernest Renan, einen französischen Autoren des 19. Jahrhunderts, der gesagt haben soll, auf der Welt gebe es nichts Besseres als den moralischen Deutschen und nichts Gefährlicheres als den demoralisierten Deutschen. Vielleicht ist es das. Vielleicht fasst genau das die Stimmung der letzten zwölf Monate zusammen, die den Rechtsruck erklären. Und mit ihm die Hilflosigkeit der Politik.
Vor genau einem Jahr ließ Angela Merkel Menschen auf der Flucht, die sich nach Deutschland aufmachten, über die offenen Grenzen einreisen. An den Bahnhöfen warteten Einheimische auf sie, klatschten, halfen aus, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Es war der Sommer der Willkommenskultur. Die Menschen in Deutschland haben ihn dazu gemacht, nicht die Politik. Es fanden sich mehr Helfer, als es brauchte. Es war, wenn man Ernest Renan folgen darf, genau das: Es gibt nichts Besseres als den moralischen Deutschen. Diese Klarheit darüber, dass in der Stunde der Not nur eines zu leisten ist: Hilfe. Angela Merkel schien im letzten Herbst die richtige Kanzlerin zur richtigen Zeit. Mit diesen helfenden Bürgerinnen und Bürgern ihres Landes war so ein Satz naheliegend: "Wir schaffen das." Doch das ist heute genau der Satz, der an ihrer Kanzlerschaft rüttelt. Sie hat ihn diese Woche durch "Deutschland wird Deutschland bleiben" abgelöst.
Das verunsicherte Volk
Doch bleibt Deutschland Deutschland, wenn es sich aus der Verantwortung zieht? Wenn es den öffentlichen Diskurs so führt, als ob es uns egal wäre, dass 28 Millionen Kinder auf der Flucht leben? Bleibt Deutschland Deutschland, wenn die Hysterie über die Menschen auf der Flucht wichtige Themen wie bezahlbaren Wohnraum, Bildung und sichere Renten in den Hintergrund drängt? Vielleicht zahlt Merkel jetzt indirekt für ihre Wirtschaftspolitik der letzten zehn Jahre: Die Deutschen sind verunsichert und anfällig für Pseudo-Lösungen. Doch an echten Problemen zerreibt sich die Politik nicht, es scheint derzeit einfacher, in den Ängsten vor dem Fremden zu wühlen. Derzeit sind es immer noch eine Million Flüchtlinge auf 80 Millionen Bürgerinnen und Bürger.
Deutschland ist ein besonderes Land, in jeder Hinsicht sonderlich. Das wird mir auch klar, wenn ich abends in Barcelona die Schauspiel-Legende Hanna Schygulla sehe. Der verstorbene Rainer Werner Fassbinder, ihr Regisseur, der sie zur Schauspielerin und das deutsche Kino zu einem internationalen Kino gemacht hat, ist immer wieder im Raum spürbar. Sie singt in der ausverkauften Cinemathek von einer anderen Welt, von einem Land, das auf keiner Landkarte zu finden ist. Eine Deutsche, die fließend Spanisch spricht und das Publikum verzaubert. Für einen Moment könnte man ihr fast glauben, dass sie es geschafft hat, aus dieser Welt zu fallen und doch in ihr zu (über-)leben. Sie erzählt viel zwischen den Liedern. Als sie von Fassbender zu erzählen beginnt, spricht sie plötzlich von "uns Kindern nach Hitler". Ein Satz ganz aus dieser Welt. Für diese "Kinder nach Hitler" war Deutschland nicht erträglich gewesen. Es brauchte, um atmen zu können, ein Land außerhalb dieses Landes. Sie rezitiert daraufhin den deutschsprachigen Dichter rumänischer Herkunft, Paul Celan. Mit der dunkelsten Stimme, die sie an diesem Abend haben wird, spricht sie die ersten Zeilen der Todesfuge:
"Schwarze Milch der Frühe/ wir trinken sie abends/ wir trinken sie mittags und morgens/ wir trinken sie nachts/ wir trinken und trinken/ wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng." Wir Kinder nach Hitler, sagt sie noch einmal, und lässt ihr Deutschland hinter sich, kehrt zurück zu ihren deutschen Liedern. Aber vergessen kann man es nicht.
Mein Deutschland
Mein Deutschland ist ein gänzlich anderes. Es war jedoch immer nur im Spiegel solcher Menschen wie Hanna Schygulla, die von dieser Geschichte zu erzählen wussten, sichtbar, wie anders mein Deutschland ist. Meine Generation hat ein gänzlich anderes Deutschland kennengelernt. Vielleicht werden wir nie so begnadet künstlerisch aus dieser Realität fliehen wie die Generation um Fassbender, weil wir nicht die Kinder nach Hitler waren. Wir waren die Kinder unter Kohl und Merkel. Wir hatten das Privileg, in der dynamischen, demokratischen Zeit erwachsen zu werden, in der Zeit, in der Grenzen fielen und man an eine gemeinsame Zukunft glaubte. An ein Europa ohne Grenzen. Eine Zeit, in der Deutschland sich öffnete, das Blutrecht abschaffte und den Menschen, die dort geboren sind, Heimat sein wollte. Die schwarze Milch hatten die Generationen vor uns zu verarbeiten. Vieles schien verarbeitet. Doch nun scheint es vor allem so, dass jetzt wir dran sind. Wir haben alles in der Hand, um es zu schaffen. Es ist die erste große Herausforderung, vor die meine Generation gestellt wird. Wir sind da, um es zu schaffen.
Jagoda Marinic ist eine deutsch-kroatische Schriftstellerin, Theaterautorin und Journalistin, sie wurde als Tochter kroatischer Einwanderer in Waiblingen geboren. Zurzeit lebt sie in Heidelberg. Zuletzt erschien von ihr der Roman "Made in Germany - Was ist deutsch in Deutschland?". Darin setzt sie sich mit der Identität Deutschlands als Einwanderungsland auseinander.