Mein Deutschland: Chinesen und Flüchtlinge
3. Juni 2016Amnesty International: Guten Tag. Smith ist mein Name. Ich rufe aus London an, der Zentrale der Menschenrechtsorganisation Amnesty International. Wir führen eine Umfrage in vielen Ländern durch, um zu ermitteln, welches Land Flüchtlingen gegenüber am freundlichsten ist. Möchten Sie daran teilnehmen?
Herr Li denkt: Da sind Sie aber mit dem falschen Land verbunden. China wird auf dem letzten Platz landen, da bin ich mir ganz sicher. Kein einziger aus meiner Großfamilie, dem Kollegen- und Freundeskreis ist dafür, dass unser Land einen Teil der Flüchtlinge aufnimmt, die im Moment nach Europa strömen. Außerdem will ja auch keiner zu uns. Alle wollen nach Deutschland.
Herr Li sagt: Ja gerne, wenn es nicht zu lange dauert.
Amnesty International: Das ist sehr nett von Ihnen. Es sind nur fünf Fragen, dauert höchstens zwei Minuten. Sind Sie dafür, dass nationale Regierungen mehr für Flüchtlinge tun sollten?
Herr Li denkt: Natürlich soll sich jedes Land um ein gutes Leben für ihre Bürger bemühen, damit sie gar keinen Grund haben zu fliehen. Und wenn in einem Land Bürgerkrieg ausbricht, sollen die Nachbarn helfen. Im Falle Syrien hat China weder das Chaos ausgelöst, noch gehören wir zu den Nachbarländern. Das trifft zwar auch auf Deutschland zu, aber anscheinend haben die Deutschen noch Komplexe wegen ihrer Geschichte. Das ist ihr Problem. Ich weiß, dass der nette Menschenrechtler mit seiner Frage vor allem auf syrische Flüchtlinge abzielt, aber ich tue so, als ob ich es ganz allgemein verstehe.
Herr Li sagt: Ja selbstverständlich.
Amnesty International: Möchten Sie, dass Ihr Land Flüchtlinge aufnimmt?
Herr Li denkt: Ich bin mit vielem, was unsere Regierung veranstaltet, nicht einverstanden. Aber in der Flüchtlingsfrage stehe ich voll und ganz hinter ihr. Sie hat bisher sehr klug gehandelt, hat sich quasi unsichtbar gemacht. Es ist ja nicht so, dass uns die Schicksale hilfsbedürftiger Menschen kalt lassen. Wir haben bisher Hunderttausenden aus Nordkorea und Myanmar Zuflucht gewährt. Aber sie sind unsere Nachbarn, haben eine ähnliche Kultur wie wir und womöglich noch Verwandte in China. Anders die mehrheitlich muslimischen Flüchtlinge aus der arabischen Welt. Ihre Kultur und ihre Religion sind für uns fremd. Außerdem haben wir bereits mit Integrationsschwierigkeiten von Millionen von Muslimen zu kämpfen. Da können wir weitere Probleme nicht gebrauchen. Nein danke!
Herr Li sagt: Ja, ich denke schon.
Amnesty International: Sollen Flüchtlinge in Ihre Stadt kommen?
Herr Li denkt: Ich lebe zum Glück nicht in Kanton, wo sich ein Teil der zig tausend Migranten aus Afrika nicht an unsere Regeln halten und den Behörden Kopfschmerzen bereiten. Noch mehr bin ich froh darüber, nicht in Köln zu Hause zu sein. Die deutsche Stadt mit dem berühmten Dom ist seit der Silvesternacht ganz in Verruf geraten und steht sinnbildlich für die Folgen der Naivität der Deutschen. Also bin ich ganz strikt dagegen, dass sich meine Stadt bereit erklärt. Aber weil ich die vorangegangene Frage mit "Ja" beantwortet habe, muss ich da jetzt durch.
Herr Li sagt: Ja klar.
Amnesty International: Hätten Sie Probleme damit, wenn Flüchtlinge in Ihrer Nähe untergebracht werden?
Herr Li denkt: Sie sind ja ein ganz hartnäckiger. Wenn ich ehrlich bin, tun mir die Syrer schon leid, die in belagerten Städten leben und Hunger leiden. Ich würde sofort Geld an die UNO spenden, wenn sie eine Möglichkeit findet, die Menschen aus der Luft zu versorgen. Diejenigen, die bis nach Europa geschafft haben, sind nicht die ärmsten. Von der Summe, die sie an die Schlepper gezahlt haben, können viele Chinesen nur träumen. Und es sind ja nicht nur Menschen unterwegs, die vor Krieg und Armut fliehen, auch Kriminelle und Terroristen haben sich unter das Flüchtlingsvolk gemischt. Im Gegensatz zu Deutschland sind wir der Meinung, dass auch im 21. Jahrhundert die Grenzen geschützt werden können.
Herr Li sagt: Nein, warum soll ich Probleme haben.
Amnesty International: Wären Sie bereit, Flüchtlinge zu Hause zu beherbergen?
Herr Li denkt: Bin ich denn bekloppt? Definitiv nicht! In unserer Zweizimmer-Wohnung ist nicht mal genügend Platz für uns drei vorhanden. Überhaupt hat China selber viel zu viele Menschen. Wir haben uns doch nicht jahrzehntelang mit dem Kinderzeugen zurückgehalten, um jetzt Platz für hunderttausende Flüchtlinge zu machen. Wenn wir welche aufnehmen müssten, dann sollten wir unsere Tür einen Spalt weit öffnen für Frauen und Kinder, um unserem Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern und der Alterung der Gesellschaft entgegenzuwirken. Und vielleicht noch für einige gut gebildete und säkularisierte Männer. Da meine ehrliche Meinung den Gutmenschen am anderen Ende der Leitung schockieren würde, beende ich das Gespräch lieber mit einem "Ja". Schließlich muss ich keinen Namen und keine Adresse für eine verbindliche Aufnahme hinterlassen.
Herr Li sagt: Ja.
Amnesty International: Herzlichen Dank für Ihre Teilnahme!
Herr Li sagt: Nichts zu danken.
Nachsatz: Nach dem AI-Index ist China das flüchtlingsfreundlichste Land der Welt. Fast jeder zweite dort sei angeblich bereit, Flüchtlinge bei sich zu Hause zu akzeptieren. Telefonisch befragt wurden 1055 Chinesen in 18 Provinzhauptstädten. Online-Umfragen chinesischer Medien zeigen ein völlig anderes Bild. So haben sich über 70 Prozent der Chinesen in einer Umfrage dafür ausgesprochen, Flüchtlinge direkt an der Grenze abzuschieben. 24 Prozent plädierten für geschlossene Flüchtlingsheime. Nur 0,8 Prozent stimmten für eine offene Aufnahme in Wohngebieten. Die von mir hinzugefügten Gedanken des Herrn Li sind nicht frei erfunden, sondern die gängigen Argumente meiner Landsleute.
Zhang Danhong ist in Peking geboren und lebt seit über 20 Jahren in Deutschland.
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