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Mein Deutschland: Gemeinsinn oder Familiensinn

Zhang Danhong10. Dezember 2015

Deutschland besteht aus 82 Millionen Individuen. In China wird das Kollektiv groß geschrieben. Daraus zu schließen, dass Chinesen mehr Gemeinsinn hätten, ist eine Fehleinschätzung, meint unsere Kolumnistin Zhang Danhong.

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Hauptbahnhof München Bayern Flüchtlinge Spenden
Helfer tragen am Münchener Hauptbahnhof Spenden für ankommende Flüchtlinge zusammenBild: picture-alliance/dpa/Sven Hoppe

36 Prozent aller Deutschen über 14 Jahre engagieren sich ehrenamtlich. Das sind rund 23 Millionen Menschen. Eine davon ist meine pensionierte Kollegin Monika Lohmüller. Seit einem halben Jahr geht sie jeden Montag zur Bonner Tafel und arbeitet dort fünf Stunden - freiwillig und unentgeltlich.

106 Mitarbeiter zählt die Bonner Tafel im Moment. "Unsere Maxime lautet: Lebensmittel vor dem Vernichten retten, um sie an Bedürftige weiterzugeben", sagt Peter Lossow, Vorstandsmitglied der Bonner Tafel. Vormittags werden bei Bäckereien und Discountern Waren eingesammelt, die noch gut genießbar sind, aber nicht mehr verkauft werden, nachmittags wird sortiert und verteilt. Bundesweit unterstützen die rund 900 Tafeln über 1,5 Millionen Menschen mit Lebensmitteln.

Die Hilfsbereitschaft der Deutschen kommt während der Flüchtlingskrise besonders zum Tragen. Ohne die hunderttausenden ehrenamtlichen Helfer wäre die Aufnahme von rund einer Million Flüchtlingen in einem Jahr schlicht undenkbar.

Tafel-Ware vor der Ausgabe Die Tafel Ehrenamt Lebensmittel Nahrungsmittel Hilfe Sozial
Die Tafeln als Brücke zwischen Überfluss und ArmutBild: Wolfgang Borrs

Getrennt zahlen und gemeinsam spenden

Ich muss zugeben, dass mich der deutsche Gemeinsinn zuerst überrascht hat. Jeder Chinese, der sich hierher verirrt hat, wundert sich über die klaren finanziellen Grenzen unter Freunden, ja sogar innerhalb der Familie. Wenn man getrennte Kassen selbst in der Ehe praktiziert, wie kann man sich dann für Wildfremde aufopfern? Das kann man, denn das eine ist die Überzeugung, dass jeder auch die finanzielle Verantwortung für sich selbst trägt, das andere ist der Sinn für das Gemeinwesen.

In China ist es genau umgekehrt: Die Bereitschaft, hilfsbedürftigen Familienangehörigen unter die Arme zu greifen, kennt keine Grenzen. Dass es bisher im Reich der Mitte trotz fehlenden sozialen Netzes nicht zu größeren Unruhen gekommen ist, liegt auch an diesem ausgeprägten Familienzusammenhalt. Gemeinnützig tätig sind aber nur ganze drei Prozent der Stadtbevölkerung, lautet die Statistik des chinesischen Staatsrats. Zwar sei die Zahl nicht ganz aktuell, sagt der bekannte China-Experte Thomas Heberer von der Universität Duisburg-Essen, dennoch treffe die Aussage zu, dass es den Chinesen an Gemeinsinn fehle. "Das hat sozialhistorische Gründe", so Heberer. Jahrtausendelang habe der Familienegoismus geherrscht. Menschen außerhalb der eigenen Bezugsgruppe seien den Chinesen gleichgültig gewesen.

Zhang Danhong Kommentarbild App
DW-Redakteurin Zhang Danhong

Nur die eigene Gruppe zählt, der Rest ist egal

Dabei konnte die Bezugsgruppe die Familie sein, aber auch das eigene Dorf. In einer landwirtschaftlich geprägten Gesellschaft bedurfte es der Zusammenarbeit ganzer Dörfer, um zu überleben. Der China-Kenner Eduard Erkes, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland wirkte, hat darin den Grund für die kollektive Orientierung gesehen. "Die gemeinschaftliche Arbeit beschränkt individuelle Neigungen mehr oder weniger und lässt sie nur so weit zu, als sie den Gemeinschaftsinteressen nicht zuwiderlaufen." Daher empfänden Chinesen in weit höherem Maße als Europäer kollektiv und fühlten sich nur wohl im Rahmen ihrer Familie, der Keimzelle der größeren Gesellschaftsverbände, und innerhalb der Organisationen, in die seine Tätigkeit sie hineinstelle.

Das Christentum habe in Deutschland die Empathie für fremde Menschen gestärkt, meint Thomas Heberer. Die Geschichten vom heiligen Martin oder Nikolaus ermutigen zu teilen. In China dient der Ahnenkult als Ersatzreligion. Gedacht wird der Vorfahren des Familienclans. Ihnen gegenüber muss man sich als würdig erweisen. Auch der Konfuzianismus, die immer noch dominierende Lebensphilosophie, predige keine Aufopferung für andere, so Heberer. Im Gegenteil: "Wer das eigene Leben für andere auf Spiel setzt, ist kein guter Sohn." Als solcher gilt, wer seine Eltern versorgt und pflegt.

Thomas Heberer
Prof. Thomas Heberer von der Universität Duisburg-EssenBild: DW

Wer im Überfluss lebt, hat mehr zu teilen

Auch der Lebensstandard spielt nach Meinung des China-Experten eine Rolle. Wer um die eigene Existenz kämpft, hat kaum Mittel und Muße, anderen zu helfen. "Die Mittellosen kümmern sich um die eigene Vervollkommnung, die Erfolgreichen denken an das ganze Land", riet bereits vor über 2000 Jahren Mengzi, der bedeutendste Nachfolger von Konfuzius, seinen Landsleuten.

An das ganze Land denken immer mehr Chinesen: Über 3000 gemeinnützige Initiativen und Stiftungen sind in den vergangenen Jahren entstanden. Doch angesichts der Größe der Bevölkerung und des Landes wirkt die Zahl bescheiden. Hierzulande sind allein unter dem Portal www.hilfsorganisationen.de 5000 Organisationen registriert.

Deutsche Ärzte weltweit im Einsatz

Philippinen Projekt von German Doctors
Sprechstunde bei Dr. Pieper in Mindanao auf den PhilippinenBild: German Doctors

Eine davon ist German Doctors. Jährlich entsendet sie über 300 Ärzte in Projekte auf den Philippinen, in Indien, Bangladesch, Kenia und Sierra Leone. Hans-Olaf Pieper, Allgemeinarzt in Köln, war schon zweimal im Einsatz. Dafür opfert er seinen Jahresurlaub, fährt mit einem Jeep durch Gegenden teilweise ohne Elektrizität, schläft auf einer Isomatte und betreut bis zu 240 Patienten an einem Tag. Mit dem Konzept der Rolling Clinics werden Millionen Menschen, die sonst von medizinischer Versorgung abgeschnitten sind und unter der Armutsgrenze leben, kostenlos behandelt.

"Das Helfen ist das eine, das andere ist natürlich, mit Menschen in Kontakt zu kommen", erzählt Pieper: "Mit den Dorfbewohnern in einer Hütte am Mittagstisch zusammenzusitzen, mit Händen und Füßen zu kommunizieren und ein großes Dankeschön zu bekommen, das alles kann man nicht mit Geld aufwiegen." Dass er bei solchen Einsätzen tolle Kollegen kennenlerne, sei ebenfalls eine Bereicherung. So sei er nach sechs Wochen zwar völlig erschöpft, fühle sich dennoch mit Energien aufgetankt.

Auch meine ehemalige Kollegin Monika Lohmüller blüht bei der Bonner Tafel auf. "Es tut gut, sich für Menschen zu engagieren, die Hilfe brauchen." Hans-Olaf Pieper findet sogar, dass soziales Engagement süchtig mache. Doch eine Therapie habe er bisher nicht gefunden. Aber er sucht und braucht sie wohl auch nicht wirklich. Denn das Helfen macht ihn glücklich.

Zhang Danhong ist in Peking geboren und lebt seit über 20 Jahren in Deutschland.

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