Mein Deutschland: Goethe und der Kaiser von China
28. April 2016Irgendwann ist mir aufgefallen, dass die Chinesen selten Sätze bilden, die mit "Ich" beginnen. Ich habe mich auch schon dabei ertappt, dass ich im Gespräch mit meinen Kindern immer noch oft die dritte Person Singular verwende, wenn ich von mir rede. "Mama kommt heute etwas später nach Hause", oder "Mama liebt Euch", obwohl sie das Kleinkindalter doch längst hinter sich haben.
Warum ist das so? Weil es sich so gehört. Ein Chinese, der andauernd von "ich" spricht, wird als arrogant, aggressiv und egoistisch empfunden. Das war schon immer so. Auch die chinesischen Kaiser vermieden das 我 (ich). Stattdessen sagten sie 朕. Das bedeutet "Risse eines Bootes" oder "gerissenes Muster auf einem Schildkrötenpanzer". So bescheiden gaben sie sich, auch wenn es ihrer mächtigen Stellung gar nicht entsprach.
Auch die traditionelle chinesische Lyrik findet ohne "ich" statt. In den schönsten Gedichten der Tang- oder Song-Dynastie, der Blütezeit der Lyrik, sucht man meist vergebens nach dem "ich". Nur der Großmeister Li Bai (701-762 nach Christus), der oft im betrunkenen Zustand dichtete, scheute sich nicht zu schreiben 天生我才必有用 (Mein geborenes Talent wird sich schon seinen Weg bahnen). Das klingt anmaßend oder eben besoffen - aber einem Genie wie ihm nimmt man das nicht übel.
Das unsichtbare "ich"
Das Fehlen des "ich" bedeutet nicht, dass die Verse unpersönlich sind - im Gegenteil: Auch die schönste Landschaftspoesie ist zugleich ein Spiegelbild des Gemüts des Dichters. In den Vordergrund tritt er kaum, das verlangt auch die Grammatik der chinesischen Sprache nicht.
Was ist dagegen mit der deutschen Dichtung? Nehmen wir das berühmte "Mailied" von Johann Wolfgang von Goethe. "Wie herrlich leuchtet mir die Natur!" - Gleich in der ersten Zeile hat sich der Dichterfürst, wenn auch im Dativ, selbst verewigt. "O Mädchen, Mädchen, Wie lieb' ich dich! Wie blinkt dein Auge, Wie liebst du mich!" Für die chinesischen Verhältnisse ist das unerhört direkt.
"Ich denke", "ich finde", "ich gehe davon aus" - wie oft am Tag werden uns hierzulande die Meinungen von Kollegen, Freunden oder Lebenspartnern entgegengeschleudert, ungeschminkt, ungeschnörkelt. In China hingegen muss man zwischen den Zeilen hören und um drei Ecken denken. Sagt einer "nein", meint er vielleicht "ja"; murmelt er ein "Ja", könnte unter dem Schleier der asiatischen Höflichkeit ein "Nein" durchschimmern.
Einsiedler, Mönch oder Dichter
Das "ich" wird hinter dem "wir" versteckt. Das Individuum ordnet sich dem Kollektiv unter. Der idealtypische Chinese im alten China war ein gebildeter, zurückhaltender Mensch, der die konfuzianische Ordnung der zwischenmenschlichen Beziehungen beherzigte, anderen nicht laut widersprach und in einer Gruppe nicht sonderlich auffiel. Wer sich weigerte, dem Mainstream zu folgen, war Außenseiter. Er hatte die Wahl zwischen drei Daseinsformen: Einsiedler, taoistischer Mönch oder melancholischer Dichter.
Im heutigen Kapitalismus mit sozialistischer Prägung ist es den Chinesen zwar erlaubt, nach persönlichem Reichtum und Glück zu streben, dennoch spielt das Kollektiv weiterhin eine wichtige Rolle. Für viele Chinesen ist die Arbeitsstelle, auf Chinesisch Danwei (单位, Arbeitseinheit), ein zweites Zuhause. Sie spielen in der Pause Tischtennis und machen nach dem Mittagessen ein Nickerchen. Ein Klappbett gehört zur Grundausstattung eines jeden chinesischen Büros. Es ist eher ein Zusammenleben als eine Zusammenarbeit.
Wem das immer noch nicht genug ist, kann sich abends mit den Kollegen zum Essen oder Karaoke verabreden. Auch gemeinsamer Urlaub mit Kollegen ist gang und gäbe.
Urlaub mit 6000 Kollegen
Vergangenes Jahr schaffte es eine Reisegruppe von über 6000 Chinesen ins Guinnessbuch der Rekorde. Es waren Angestellte eines Privatunternehmens, die für ihre gute Arbeit vom Chef mit einer Europa-Reise belohnt wurden. Wer mit einer solchen Gruppe unterwegs ist, kommt nicht auf die Idee, eigene Wünsche zu formulieren. Für das "ich" ist schlicht kein Platz.
In der Familie, dem kleinsten und engsten Kollektiv, ist es nicht viel anders: Jeder hat seine Rolle und erfüllt seine Verpflichtung. Wer es innerhalb der Großfamilie zu Reichtum gebracht hat, für den ist es selbstverständlich, dass er der ganzen Familie, nicht nur den Eltern, sondern auch Tanten, Onkeln oder Cousinen beim Erwerb einer Eigentumswohnung oder eines Autos unter die Arme greift. Solange Kinder noch nicht selbständig sind, dient die Mutter als Köchin, Chauffeurin und Nachhilfelehrerin. Das ist, glaube ich, der Grund, warum ich weiterhin von mir in dritter Person Singular spreche, anstatt selbstbewusst ein "ich" in den Mund zu nehmen - auch wenn ich ansonsten inzwischen ziemlich deutsch sozialisiert bin.
Zhang Danhong ist in Peking geboren und lebt seit über 20 Jahren in Deutschland.
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