Mein Deutschland: Was ist mit den Deutschen los?
21. Januar 2016Als die Deutschen Ende August 2015 am Münchner Hauptbahnhof mit "Welcome"-Plakaten in der Hand und Glanz in den Augen den Flüchtlingen zujubelten, erkannte ich sie nicht wieder. Ich persönlich hatte die Deutschen (wenn man überhaupt von "den Deutschen" sprechen darf) bis dahin nicht als besonders ausländerfreundlich empfunden. Es waren die zwei Standardfragen, die mir Deutsche in meiner Anfangszeit stellten: "Was machen Sie hier? Wann kehren Sie in Ihre Heimat zurück?" Manche sprachen unbeirrt Englisch mit mir, obwohl mein Deutsch schon damals ganz passabel war. Beim Ausländeramt störten sich die Beamten immer wieder daran, dass mein Studentenvisum irgendwann in ein Arbeitsvisum umgewandelt wurde. Nie wieder zum Ausländeramt - das war ein wichtiges Motiv für meine Einbürgerung.
Auch sonst sind die Deutschen kein heiteres Volk. Mit ernster Miene laufen sie durch die Straßen und machen lange Gesichter, sobald es regnet. Und es regnet ziemlich oft. Doch mit der Zeit habe ich den weichen Kern unter der rauen Schale erkannt. Ich vergleiche die Deutschen gern mit Thermoskannen - außen kühl, innen warm.
Doch was ist nun mit ihnen passiert? Sie bringen den Neuankömmlingen Essen und Kleidung, opfern ihre Freizeit und sogar ihren Urlaub, um in Registrierungsstellen, Erstaufnahmelagern oder Flüchtlingsheimen mitzuhelfen. Schulkinder bringen den Fremden Deutsch bei, die in ihren Turnhallen übernachten.
Der Hang zum Romantischen und Heroischen
Ich suchte nach einer Erklärung. Es wurde gemunkelt, dass die Deutschen mit diesem altruistischen Kraftakt versuchten, Schuldgefühle für den Nationalsozialismus zu kompensieren. Ich denke eher an das Heroische in der europäischen Kultur, das im Heldenepos von Homer wurzelt und in Don Quichotte seinen literarischen Höhepunkt findet. Wie Martin Luther in Worms vor der versammelten weltlichen und religiösen Führung sagte: "Hier stehe ich und kann nicht anders", ist für mich heldenhaft. Für viele ist auch die Bundeskanzlerin eine Heldin geworden - sie lässt die Grenzen offen, während ringsherum Zäune gebaut werden. Viele Deutsche folgten ihrer Kanzlerin und waren wie im Rausch.
In den vergangenen Monaten kam ich mir oft wie eine Spielverderberin vor. Als pragmatisch denkende Chinesin hatte ich schon bald ein mulmiges Gefühl, ob es gut gehen kann, wenn täglich über 10.000 Menschen aus einer völlig anderen Kultur unkontrolliert hierher strömen. Es ging prächtig, wenn man den Medien glaubte. Sie haben alles getan, um zu einer positiven Stimmung im Lande beizutragen. Sie berichteten über hilfsbereite Deutsche, dankbare Flüchtlinge und wissbegierige Flüchtlingskinder.
Gelenkte Meinungsfreiheit?
Doch es gab auch die anderen Deutschen und die anderen Flüchtlinge. Das Hässliche wurde nur weitgehend ausgeblendet. Bis zur Silvesternacht. Oder besser gesagt: bis ein paar Tage nach der Silvesternacht. Denn zuerst galt für weite Teile der Medien weiterhin die Devise: Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Bis sich nicht mehr vertuschen ließ, dass die Diebe und Sexualtäter auf dem Kölner Bahnhofsvorplatz fast ausschließlich Migranten aus Nordafrika und Nahost waren, zum Teil auch Flüchtlinge.
Nun bin ich Teil der deutschen Medien und kenne die politische Korrektheit, die in unserer Branche vorherrscht, zur Genüge. In einer Studie bescheinigte die Ludwig-Erhard-Stiftung den deutschen Journalisten ein anderes Selbstverständnis als ihren Kollegen im Ausland. Vorstandsvorsitzender der Stiftung und Medienexperte Roland Tichy sagte in einem DW-Interview im Oktober über die deutschen Medienmacher: "Sie sind Propheten einer Sache, und sie kämpfen für etwas, statt über etwas zu berichten." Kämpften also viele aus meiner Zunft für das Gelingen der Integration und ließen unbequeme Fakten einfach unter den Tisch fallen? Spielen wir dann nicht den Pegida-Anhängern in die Hände, die seit Monaten über die Lügenpresse schimpfen?
Der Herdentrieb geht weiter
Ich habe mir so sehr gewünscht, dass die Journalisten endlich einmal innehalten und selbstkritisch über ihre Arbeit reflektieren. Doch dazu ist keine Zeit. Sie folgen weiter dem Herdentrieb und wechseln nun von einem Extrem in das andere: Gestern fielen sie noch über jeden Skeptiker der Willkommenskultur her, nun schreiben sie den Sturz von Angela Merkel herbei.
Apropos Merkel: Unsere Kanzlerin verstehe ich seit einiger Zeit nicht mehr. Einer klugen Frau wie ihr muss man nicht erklären, dass die Aufnahme von einer Million Flüchtlingen nicht bei der Bereitstellung von Schlafplätzen aufhört. Die Behörden müssen sich vernetzen, damit sich die Blamage nicht wiederholt, dass sich ein Flüchtling siebenmal registrierte, womöglich siebenmal Sozialhilfe kassierte, um dann in Paris ein Attentat zu verüben. Erzieher, Lehrer und Polizisten müssen eingestellt, den Neuankömmlingen müssen die Sprache, die Sitten und vor allem die deutschen Werte beigebracht werden.
Das heißt, die eine Million von 2015 zu "verdauen", ist bereits eine Mammutaufgabe. In diesem Jahr kann Deutschland nicht eine weitere Million willkommen heißen. Frau Merkel hält aber an offenen Grenzen fest und hofft auf eine europäische Lösung. Doch die ist im Moment so wahrscheinlich wie Schneefall in Berlin im Juni.
Hat sie einen Plan B?
"Abschottung ist im 21. Jahrhundert keine Lösung", wiederholt Angela Merkel ihr Mantra. Kann sie sagen, was dann die Lösung ist? Vielleicht hat sie ja noch etwas Großes mit uns vor. Nur verraten will sie es uns anscheinend nicht. Oder hat sie selber auch keinen Plan? Ex-Kanzler Gerhard Schröder unterstellt ihr das.
Während Frau Merkel einfach stur bleibt, überbieten sich andere Politiker mit Vorschlägen, straffällige Migranten schneller abzuschieben. Dabei wissen sie ganz genau, wie hoch die Hürden für eine Abschiebung liegen und wie wenig aufnahmebereit die Herkunftsländer sind. Also muss der Zustrom an den Grenzen gestoppt werden. "Notfalls muss für einen vorübergehenden Zeitraum an den Grenzen die Einreiseberechtigung kontrolliert und müssen illegale Einreisen unterbunden werden", schlägt der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier vor. Nur so kann Deutschland seine begrenzte Aufnahmekapazität nutzen, um den wirklich Schutzbedürftigen Zuflucht zu bieten.
Zwei Extreme - und dazwischen?
Eine banale Erkenntnis ist an dieser Stelle enorm wichtig: Deutschland kann nicht die ganze Welt retten. Die Gutmenschen (das sind nicht die Helfer, sondern diejenigen, die die Augen vor der Realität verschließen) in der Politik, der Gesellschaft und den Medien wollen es aber zumindest versuchen. Und die Dummköpfe in diesem Lande zünden Flüchtlingsheime an und schlagen Menschen zusammen, die ausländisch aussehen.
Der Kabarettist Dieter Nuhr sagte neulich über den deutschen Umgang mit den Flüchtlingen: "Zwischen 'alle rein' und 'alle raus' gibt es nichts mehr." Natürlich stimmt das nicht ganz. Da ist ja noch die schweigende Mehrheit. Aber sie ist verunsicherter denn je.
Ich sehne mich nach den ganz normalen Deutschen, die beim Regen lange Gesichter machen und nicht überschwänglich freundlich sind. Die aber, wenn es darauf ankommt, Herz und Toleranz zeigen.
Zhang Danhong ist in Peking geboren und lebt seit über 20 Jahren in Deutschland.
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