Kulturkampf im Klassenzimmer
17. Mai 2019Dass Mädchen vor der Pubertät ein Kopftuch tragen sollten, findet in Österreich eigentlich niemand: die Regierung so wenig wie die Opposition, kein Lehrer, kein Bildungsexperte, kein öffentlich argumentierender Imam. Die Islamische Glaubensgemeinschaft, in Österreich eine Körperschaft öffentlichen Rechts, ist klar dagegen. Obwohl zu der Frage also maximaler Konsens herrscht, ist sie im stets erregungsbereiten Land zum Aufreger des Monats geworden. Die Chaträume quellen über vor Postings, in der Parlamentsdebatte zum Thema wurde allseits in die Vollen gegriffen. Die hohe Aufmerksamkeit sagt über die Relevanz des Themas nichts aus. Sie legt aber Zeugnis ab über das außerordentliche Geschick, mit dem Österreichs Rechtsregierung die öffentliche Meinung steuert.
Am Donnerstag beschloss der Nationalrat in Wien gegen die Stimmen der Opposition aus sozialdemokratischer SPÖ und liberalen "Neos", Mädchen das Tragen von Kopftüchern in der Grundschule zu verbieten. Bei Zuwiderhandeln droht den Eltern eine Strafe von 440 Euro. Einen Anlass für die Initiative gab es keinen. Aus einigen Bundesländern, so aus Kärnten und dem Burgenland, ist kein einziger Fall bekannt; in Tirol sollen 19 Mädchen betroffen sein. Das eigentliche Ziel des Unternehmens aber wurde erreicht: die eigene Anhängerschaft gegen den Islam im Land zu mobilisieren, die Opposition des Kapitulantentums zu zeihen und den liberalen Teil der Öffentlichkeit zu polarisieren.
Der Islam ist gemeint, aber nicht genannt
Anfangs hatten Vizekanzler Heinz-Christian Strache von der rechten FPÖ, der Initiator des Gesetzes, und ÖVP-Bundeskanzler Sebastian Kurz sogar auf eine Verfassungsänderung gedrungen. Anders als in Deutschland ist alles, was das Parlament in den Verfassungsrang hebt, dem Zugriff des Verfassungsgerichts entzogen. Da Sozialdemokraten und Liberale aber nicht mit zogen, kam die nötige Zweidrittelmehrheit nicht zustande. So wurde ein einfaches Gesetz daraus. Das warf ein Problem auf, das noch ungelöst ist und weiter Debatten nach gleichem Muster verspricht.
Um die Initiative gerichtsfest zu machen, durfte "der Islam", obwohl gemeint, im Gesetz nicht ausdrücklich genannt werden. So wurde allgemein das "Tragen weltanschaulich oder religiös geprägter Bekleidung" verboten, soweit sie "mit der Verhüllung des Hauptes verbunden" ist. Die Formulierung trifft zwar nicht die Kippa der Juden, wohl aber den Turban der Sikhs, der von dem Verbot der "Verhüllung" in einer Feststellung des zuständigen Parlamentsausschusses ausdrücklich ausgenommen wurde. Fein ausgedacht: Was ein Ausschuss feststellt, kann das Gericht nicht beanstanden. Wirkliche Gefahr droht dem neuen Gesetz erst vom Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg. Nach dessen Jurisdiktion dürfen Staaten Kopftuchverbote nur dann verhängt werden, wenn sie ein "Neutralitätsgebot" gegen alle Religionen beachten. Davon ist Österreich, wo in den Klassenzimmern Kreuze zwingend vorgeschrieben sind, weit entfernt.
Fadenscheinige Argumente
Mit der vorläufigen rechtlichen Absicherung war der Weg frei zur Attacke auf die Bastion der liberalen Kritiker. Das Kopftuch bedeute "geschlechtliche Segregation", befand die Regierung - ein heikles Argument in einem Land, in dem Landkinder schulischerseits bis heute gehalten sind, zu besonderen Anlässen in Dirndl und Lederhose zu erscheinen; im Dirndl die Mädchen, in der Lederhose die Jungen, wohlgemerkt. Der ÖVP-Mann Rudolf Taschner, ein ausgewiesener Rechter, nannte das Kopftuch ein "Symbol der Unterdrückung von Frauen und Mädchen" und versprach, "mit aller Kraft für die Aufklärung" zu kämpfen.
Derselbe Abgeordnete tritt für verpflichtenden konfessionellen Religionsunterricht für alle ein, auch für Konfessionslose. Bildungsminister Heinz Faßmann, eigentlich ein Mann der Wissenschaft und eher frei von ideologischen Komplexen, kam ein weiteres Mal die Aufgabe zu, sich für den "Kampf gegen den politischen Islam", ein erklärtes Regierungsziel, liberale Begründungen auszudenken.
Schule? Nicht so wichtig!
Über die Auswirkungen des Gesetzes auf die schulische Praxis wird in Österreich kaum diskutiert. Auf sie kommt es offenbar nicht an. Kritiker wenden ein, dass kleine Mädchen zum Kopftuch nicht unbedingt von fundamentalistischen Vätern gezwungen werden und dass sie auch gern die Mama oder die Tante nachmachen. Moniert wird auch, dass das Gesetz nur in der Schule gilt - was eher zur Entfremdung der Kinder von der Institution und zum Zurückkuscheln in die familiäre Enge führen könnte, ähnlich wie bei Sektenkindern. Konservative Eltern könne das Verbot radikalen Gruppen zutreiben, kritisiert der in Wien tätige deutsche Soziologe Kenan Güngör. Bei Kindern, die zwischen den religiösen Haltungen ihrer Eltern und ihrer eigenen Identität nicht unterscheiden, könne zudem der Eindruck entstehen, sie seien nicht gewollt.
Für die Wiener Regierung, die jüngst die staatlichen Integrationsmaßnahmen um 80 Millionen Euro gekürzt hat, sind das alles keine Schreckbilder. Im Gegenteil: Solange Aussicht besteht, dass der Kulturkampf im Klassenzimmer mit einem Sieg endet, führt sie ihn mit Unterstützung der Mehrheit. Vizekanzler Strache hat, nach dem großen Erfolg, schon weitere Initiativen angekündigt. Erstes Ziel ist die Ausweitung des Kopftuchverbots bis zum 14. Lebensjahr.
Norbert Mappes-Niediek lebt im österreichischen Graz und ist Südosteuropa-Korrespondent zahlreicher deutschsprachiger Zeitungen.