Literatur in Zeiten der Not
23. Dezember 2016In meiner Kindheit im kommunistischen Rumänien hatte die Literatur einen besonderen Stellenwert: Verbotene Bücher zirkulierten von Familie zu Familie. Überhaupt galten Bücher als Fenster zur Welt, und, weil sie meist von den großen Themen Liebe und Tod handelten, auch als Hort der Menschlichkeit in einem diktatorischen Willkürregime. Ich bin, über diese düstere Zeit des Kommunismus hinaus, mehr denn je davon überzeugt, dass uns die Literatur - das Lesen genauso wie das Schreiben - zur Empathie erzieht. Und zwar durch die Herausforderung und eben Zumutung, in andere Welten einzutauchen, fremden Gedankengängen zu folgen. Was aber kann ich als Literatin und Mutter in Zürich für die Menschen aus Syrien tun, die zu uns nach Europa flüchten?
Zusammen mit der Zürcher Theaterfrau Gunda Zeeb habe ich vor einem Jahr in Zürich eine Benefiz-Lesereihe initiiert, deren Erlös der Flüchtlingshilfe in Griechenland und in der Türkei direkt zugeht. Einmal im Monat lesen je drei bekannte deutschsprachige Autorinnen und Autoren aus ihren aktuellen Büchern oder aber Texte, die sie für diesen Anlass schreiben. Nicht alle drehen sich um Krieg und Migration, aber alle handeln sie von der Menschlichkeit und von dem, was uns als Künstler und als Menschen zusammenhält.
Schriftsteller als Sprachrohr der Gesellschaft
Wie schreibt man in der Diktatur? Welche Zwänge erlebt der Schriftsteller in der freien Welt? Was behindert das Schreiben und was treibt es an? Was macht den Wert eines Buches aus, jenseits des Buchhandelshypes? Die Abende der Benefiz-Lesereise sind nicht moderiert, ich mache nur kurze Einführungen zu den Autoren und den vorzutragenden Texten. Außer den Autoren lesen auch zwei Schauspieler aus übersetzen Texten. Wie spielerisch und experimentierfreudig kann die Kunst sein in Zeiten großer Ernsthaftigkeit? Was kann die Kunst, was vermag sie in bewegten Zeiten? Was muss sie tun und wovon kann sie sich frei machen? Auf diese Fragen antworten wir mit den vorgetragenen Texten.
Im Anschluss an die Lesungen sitzen Autoren und Gäste zusammen bei einem Glühwein oder einer warmen Suppe. Die Gespräche sind erstaunlich politisch. Erstaunlich deshalb, weil uns allen die Unkenrufe bekannt sind, in der Schweiz gäbe es nach Frisch und Dürrenmatt nur politisch Apathische. Was für ein Irrtum! Die Schreibenden sind gerade durch ihre Tätigkeit feine Seismographen ihrer Umgebung, unweigerlich also politisch. Nur werden sie nicht mehr als Sprachrohre der Gesellschaft wahrgenommen, weil sich ihre Bücher über den Marktwert definieren - eine Buchsaison lang, höchstens zwei. Danach sind es Gedanken von gestern.
Die Abende erfreuen sich einer großen Beliebtheit, weil sie einem Bedürfnis entstammen. Stattliche Geldbeträge kommen zusammen, die Anlässe bringen die Anwesenden auf weitere Initiativen, von der Sachspende bis zur Hilfe vor Ort am Mittelmeer. Denn gerade in dieser prekären Zeit sollen sich die Kräfte aller Schöngeister bündeln und die zivilgesellschaftliche Kraft, die die Kunst ausstrahlt, in Soforthilfeprojekten kanalisieren. Gerade in diesen Zeiten größter Not gilt es, ein Zeichen zu setzen, dass am Anfang jeder Kunst der Mensch steht - und bedingungslos die Menschlichkeit.
Dana Grigorcea ist eine schweizerisch-rumänische Schriftstellerin und Philologin. 2011 debütierte sie mit dem Roman Baba Rada, den sie auf Deutsch verfasste. Zuletzt erschien von ihr 2015 der Roman Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit.