Wir Rumänen sind gerne mitten im Getümmel - auch beim Impfen
18. März 2021Lebensmittel waren im kommunistischen Rumänien der 1980er Jahre knapp. Weil ich 1983 geboren bin, erinnere ich mich noch an Lebensmittelkarten, auf denen einzelne Rationen vermerkt waren, und an lange Warteschlangen vor jedem Geschäft, in dem es Ware gab. Ich denke, auch nach der politischen Wende 1989 verweist der Begriff "Schlange" im Rumänischen weiterhin auf eine chaotische, drängelnde Menschenmasse. Die Leute standen nicht ordentlich in Reih und Glied, nicht einer hinter dem anderen; sondern eben Schlange.
Das Schlangestehen liegt uns auch heute noch im Blut, genau wie der verzweifelte Drang, sich mit möglichst vielen Lebensmitteln einzudecken. Der äußert sich vor allem vor Feiertagen, an denen die Läden geschlossen sind. Es gibt sogar Reporter, die live aus der Schlange berichten: über die Wartezeit und den Inhalt der Einkaufswagen. Sie sprechen von "den Rumänen", als wären wir eine seltsame Spezies.
Die Kunst des Schlangestehens im Pandemie-Zeitalter
Wir Rumänen wissen sehr gut, was eine Schlange ist. Zuletzt musste ich vor einem Monat Schlangestehen, um den Stromanbieter zu wechseln. Zwei Stunden wartete ich in der Kälte, zusammen mit ein paar Dutzend anderen Leuten, die keine Geduld mehr hatten und den armen Wachmann anschnauzten, weil er die Tür zuhielt und jeweils nur eine Person alleine hineinließ. Vom Corona-konformen Abstandhalten war draußen gar keine Rede, also stand ich irgendwie neben der eigentlichen Schlange, mit dem Gesicht zur Straße, in einer lächerlichen und arroganten Haltung - etwa so, wie wenn die Katze keine Lust auf jemanden hat und den Kopf verdreht.
Das Schlangestehen auf der Treppe, die zur Türe führt, hat etwas sehr Besonderes. Körperlich ist es zwar unbequem - aber man weiß, man ist fast schon drin, man fühlt schon die Schwingungen des Raums. Es ist fast geschafft! Doch als ich an jenem Tag endlich direkt vor der Tür stand, sagte der Wachmann, keiner könne mehr hinein, weil die Öffnungszeiten für den Publikumsverkehr fast vorüber seien. Stattdessen empfahl er, die Leute sollten es im Internet versuchen - wenn sie sich damit auskennen.
Ich begann zu jammern, vor seiner Nase mit meinen Papieren zu wedeln und zu erklären, wie wichtig es für mich sei, hineinzugehen, weil ich den Vertrag meines verstorbenen Großvaters übernehmen müsse. Er hatte wohl Mitleid, ließ mich hinein und verriegelte die Tür hinter mir. Ich dachte mir, dass ich auch beim Schlangestehen vor 1989 überlebensfähig gewesen wäre: Wenigstens weiß ich, wie man eine Geschichte erzählt. Mein Großvater ist übrigens seit 15 Jahren tot. Weil ihn seit damals niemand nach seiner Gesundheit gefragt hat, kamen die Rechnungen weiterhin auf seinen Namen.
Neue Abenteuer in unbekannten Dörfern
In Rumänien hat jetzt, nach den ersten beiden Etappen für die priorisierten Gruppen, die dritte Phase der Impfkampagne begonnen - die für die ganz normale Bevölkerung. Schon am Morgen habe ich meinen Namen auf eine Warteliste eingetragen, die mich an jene Listen erinnert, die es bis vor kurzem bei den Bürgerämtern gab, wenn man einen neuen Personalausweis oder Reisepass brauchte. Dort bildeten sich schon im Morgengrauen lange Schlangen, manchmal sogar schon vor fünf Uhr, und der erste, der den Zaun des Amts erreichte, schrieb mit Kugelschreiber die Namen der Leute auf, die hinter ihm standen. Wegen der sehr kurzen Öffnungszeiten war das Gedränge unbeschreiblich, eine geordnete Schlange kam nie zustande. Manche Leute standen schon nachts dort, um sich um die Liste zu kümmern; man konnte sie bestechen und so den eigenen Namen weiter nach oben schieben lassen.
In der Whatsapp-Gruppe, in der meine Freundinnen und ich uns austauschen, war heute besonders viel los. Die Plattform für Terminreservierungen für die Impfung hätte an diesem Morgen online sein sollen, war aber schon am Vorabend kurz offen gewesen, als Testlauf. Viele Leute hatten davon profitiert und bereits Termine ergattert. Am Tag selbst dagegen stürzte die Plattform erst ab, funktionierte dann zeitweilig wieder, um dann wieder abzustürzen. Als ich morgens wach wurde, war in meiner Stadt kein einziger Termin mehr frei; also habe ich mich auf eine Warteliste eingetragen. Meine Freundinnen aus Bukarest riefen einander noch vor sechs Uhr morgens an, um auf der Plattform ihr Glück zu versuchen.
Zwei von ihnen konnten Termine ergattern: im Kulturhaus des Dorfes Olteni, 110 Kilometer von der Hauptstadt entfernt, also fast zwei Stunden Autofahrt. M. wollte eigentlich auch mitfahren, doch ihre Internetverbindung war zu langsam, sie konnte in Olteni nichts mehr finden. Also schlug sie mir vor, für die Impfung die Kleinstadt Făurei aufzusuchen, den einzigen Ort in meinem Landkreis, wo noch etwas frei war. So gerne ich M. auch treffen wollte - diesmal musste ich ihre medizinische Eskapade ablehnen.
Beim Impfen sind wir besser dran als viele andere europäische Länder
Făurei ist 65 Kilometer von meiner Stadt Brăila entfernt. In unserem Land, in dem Distanzen in Zeit gemessen werden, weil die Straßen so schlecht sind, bedeutet das eine Stunde Fahrt in einem langsamen und dreckigen Zug. M. wird drei Stunden brauchen, um aus Bukarest nach Făurei zu kommen, sie wird schon um 5 Uhr morgens abfahren müssen, um ihren Impftermin nicht zu verpassen.
Es wäre vielleicht lustig, nach der Impfung gemeinsam einen Automaten-Kaffee am Bahnhof in Făurei zu trinken. Über so eine Geschichte würden wir uns viele Jahre später amüsieren - vorausgesetzt, wir kommen psychisch gesund aus dieser Pandemie heraus. Aber ich fürchte, mir fehlt die Energie, um mitten in der Nacht aufzustehen, um sicherzugehen, etwas nicht zu verpassen, was ich irgendwann einmal ergattern sollte. Also bin ich vielleicht doch nicht überlebensfähig in der Welt der Schlangen. Denn letztendlich ähnelt das Gedränge von heute jenem am Zaun der Behörden, die Personalausweise ausstellen. Oder dem Gedränge vor dem Lebensmittelladen im Kommunismus, wenn es hieß, man könnte dort Orangen finden.
Den restlichen Tag verbrachte ich mit meinen Freundinnen in unserer Whatsapp-Gruppe, wir teilten Links, Gedanken und Witzchen. In unserer Filterblase ist die Impfkampagne jetzt das große Thema, wir sprechen viel über die disproportionale Aufteilung der Impfdosen und diverse andere Probleme der Kampagne oder amüsieren uns über Geschichten von jungen Bukarestern, die sich im Rentnerclub der Kleinstadt Fetești zum Impfen verabreden. Über den Medizintourismus, der jetzt beginnen wird. Uns tröstet der Gedanke, dass die Impfkampagne in Rumänien zwar noch ruckelt, wir aber insgesamt besser dran sind als viele andere Länder in Europa. Dabei sind wir Rumänen daran gewöhnt, bei allem die Letzten zu sein.
Eine hektische Schlange ist ein gutes Zeichen
Wir fragten uns, was hinter diesem Getümmel steckt (das letztendlich sehr verständlich ist, nach einem Jahr der Angst und des Wartens). Unsere Schlussfolgerung: Wir Rumänen sind gerne mitten drin. Denn eine hektische Schlange ist ein Zeichen für die hohe Qualität der Ware. Wenn sich die Menschen gegenseitig auf die Füße treten, kann die Ware gar nicht schlecht sein.
Nach einem Jahr, in dem wir eingesperrt waren und Parfüm nur für Verabredungen auf Zoom aufgetragen haben, damit sie uns ein wenig realer erscheinen (und damit wir unseren Geruchssinn testen, diesen archaischen Sinn, der uns in der Corona-Pandemie besonders wichtig geworden ist), beginnt für einige von uns jetzt das kleine Abenteuer der Fahrt zur Impfung: per GPS in ein Kaff, von dem wir nie zuvor gehört hatten. Symbol unseres Sieges wird ein kleines Pflaster auf dem Arm sein. Und dann beginnt der lange Weg zurück in unser früheres Leben.
Lavinia Braniștes erstes Werk, "Interior zero", wurde 2016 in Rumänien zum besten Roman des Jahres gewählt. 2018 erschien die deutsche Übersetzung unter dem Titel "Null Komma Irgendwas" im mikrotext-Verlag, Berlin. Ihr zweiter Roman, "Sonia ridică mână" ("Sonia meldet sich"), erscheint in Frühling 2021 auf Deutsch.
Adaption aus dem Rumänischen: Dana Alexandra Scherle