Alternatives Wohnen
23. Januar 2009Kurz vor acht Uhr abends. Jules deckt den Tisch für ein Dutzend Leute, dann gönnt er sich ein Bierchen. Seine Pariser Studentenbude hat Jules vor drei Jahren aufgegeben, heute lebt und arbeitet er in der Longo-Mai-Spinnerei im Alpen-Ski-Ort Serre-Chevalier. „Mit andern Leuten leben, wirklich mein Leben mit ihnen zu teilen: darum geht es mir. Um den politischen, philosophischen und den menschlichen Austausch.“
Selbst ist die Kommune
Bei Longo-Mai wird viel geteilt, unter anderem zwei rudimentäre Badezimmer und ein riesiges Wohn- und Esszimmer mit knarrenden Holzdielen, gemütlichem Kamin, Oma-Sesseln und einer großen, offenen Küche. Jeder hat aber auch seinen privaten Wohnbereich.
Geteilt wird auch die Arbeit in der Spinnerei: Vom Design der neuen Wollpullolver-Kollektion bis hin zur Wartung der vom Bergbach angetriebenen Turbine, die unter dem Fußboden dröhnt und Fabrik und Wohngemeinschaft mit Strom versorgt.
Schafe hüten statt Talkshows gucken
Eine kleine drahtige Frau stellt einen Brotkorb auf den Tisch. Petra kommt ursprünglich aus Ostberlin, jetzt ist sie Mitte 50. Nach dem Mauerfall wollte sie nicht von dem neuen System überrollt werden. Ihre vier Kinder hat sie bei Longo-Mai großgezogen. „Du nimmst sie überall hin mit: zum Schafe hüten, Schweine füttern, Gemüse pflanzen. Sie haben tausend Möglichkeiten, die andere Kinder nie haben werden. Ich mache mir keine Sorgen um meine Kinder, die wissen sich zu helfen.“
Die Kommune in Serre Chevalier ist nur eine von vielen: Longo-Mai ist eine europaweite Bewegung mit mehreren Bauernhöfe in Frankreich und anderen Ländern. Entstanden ist Longo-Mai 1973, in der Aufbruchsstimmung der 68er-Bewegung. Heute bekommt die Thematik neuen Wind: Wirtschafts- und Umweltkrise, Vereinsamung vor Computer- und Fernsehbildschirmen… Immer mehr Franzosen entziehen sich dem. Die meisten wollen jedoch nicht ganz so intensiv zusammen leben, wie die Bewohner von Longo-Mai und anderer Kommunen. Aber teilen wollen sie auch.
Von der normalen Mietwohnung bis zum "Dorf des Friedens"
Auf der diesjährigen Pariser Öko-Haus-Messe tauschen an die 50 "Cohousing“-Interessenten juristische und finanzielle Tipps und oft auch sehr konkrete Träume aus. Maryse, eine Pariser Universitätsprofessorin, steht kurz vor der Rente. Mit sieben anderen Familien und Ehepaaren aller Altersstufen sucht sie im Großraum Paris ein Grundstück für ein gemeinsames Wohnprojekt: "Hobbys und Ideen wollen wir teilen. Eine gemeinsame Waschküche, ein Bügeleisen und ein Staubsauger für alle. Ich brauche keine eigene Säge oder Bohrmaschine: alles wird in der gemeinsamen Werkstatt im Keller sein. Und dann werden wir auch Zeit finden, dort gemeinsam herumzuwerkeln.“
Ein Mittvierziger will ein "Dorf des Friedens“ nach Feng-Shui-Regeln bauen, eine junge allein erziehende Mutter will jede Menge Ersatzgeschwister für ihren Sohn, ein Soziologe plant ein "Cohousing“-Projekt mit Eigentums- und mit Mietwohnungen für Familien, die keinen Kredit bekommen können.
Konfliktlösung in der Gruppe
Zurück in die Wohn-Küche von Logo-Mai. Nach üppigem Mahl mit Lammkoteletts, Biogemüse aus dem Garten und angeregtem Tischgespräch ist wieder Ruhe eingekehrt. Nur die Spülmaschine surrt – und die Turbine unter dem Fußboden dröhnt wie immer. Petra schenkt sich einen Kaffee ein und sinniert noch ein bisschen darüber, was sie bei Longo-Mai als wohltuend empfindet: die Vielzahl an Bezugspersonen. Wenn es zwischen Kindern und Eltern kracht, dann sind andere ihnen nahe stehende Erwachsene nur eine Treppe höher. Die Gruppe hilft, zwischenmenschliche Konflikte zu entschärfen, das ist Petras Erfahrung:
"Manchmal hast du einen Riesenknoten, und weißt nicht wo anfangen, um ihn auseinanderzutüfteln. Und manchmal musst du erstmal mit 15 anderen Leuten darüber reden, die überhaupt nichts mit der Sache zu tun haben.