2014 brachte neue Eiszeit
1. Januar 2015Ich bin überrascht, ja fast schon erschüttert, dass ich in diesem Jahr wieder Begriffe aus der Mottenkiste des historischen Wortschatzes für die Berichterstattung über Europa hervorholen muss: Abschreckung, Aufrüstung, Einmarsch, Annexion, Krieg. 25 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges, nach den weitgehend friedlichen politischen Umwälzungen in Mittel- und Osteuropa und dem Ende der schrecklichen Bürgerkriege auf dem Balkan war die Idee, dass sich in Europa wieder Armeen gegenüberstehen könnten, eine Fiktion, eine Romanvorlage vielleicht. Und doch ist das Szenario bittere Wirklichkeit geworden. Russland hat eigenmächtig und ohne legale Grundlage der Ukraine ein Stück Land genommen und eine kriegerische Auseinandersetzung im Osten der Ukraine ausgelöst.
Im Baltikum, in Polen, in Finnland ist die Angst vor einem russischen Einmarsch real. Russland rasselt an den Grenzen zum Westen mit dem Säbel. Manöver, Flugzeuge und Schiffe möglichst nahe an der Grenze zu NATO-Gebiet. Provokation pur. Machtdemonstration. Die Europäische Union reagiert mit Wirtschaftssanktionen und einem unverrückbaren Bekenntnis zur Ukraine, aber auch Georgien und Moldawien. Die NATO reagiert mit einer Änderung ihrer Strategie: Verteidigung der Ostgrenze statt Auslandseinsätze ist jetzt wieder gefragt. Es hat die EU viel Kraft gekostet, gemeinsam zu handeln, zusammen zu bleiben. Bis jetzt hat das geklappt. Die nächste Nagelprobe kommt im Frühjahr, wenn die Sanktionen gegen Russland verlängert oder gar verschärft werden müssen. Die NATO hat sich unter der Führung der USA dazu entschlossen, eine neue Eingreiftruppe aufzubauen. Eine militärische Option zur Rückeroberung der Krim gibt es nicht, darf es nicht geben. Da ist es nicht sehr klug, dieser Truppe ausgerechnet den Namen "Speerspitze" zu geben. Das muss Russland zusätzlich reizen.
Neue Spaltung droht
Im Laufe des Jahres wurde die Rhetorik auf beiden Seiten schärfer. Man redet von Abschreckung, Russland bringt gar die Atomwaffen ins Spiel. Sehr schnell fällt man zurück in das Denken des Kalten Krieges, der Lager, der Guten und Bösen. Waren die 25 Jahre, in denen die Europäer versucht haben, die Teilung zu überwinden, umsonst? Warum denkt vor allem die russische Führung immer noch in den alten Kategorien von West und Ost? Warum fühlt sich Putin umzingelt? Warum glauben die normalen Russen die zum Teil haarsträubende Propaganda? Warum ist der Kalte Krieg in der Ukraine zu einem heißen geworden? Die so genannten "Russland-Versteher" haben Erklärungen parat, aber verstehen sie wirklich, was in den Köpfen von Putins Führung vor sich geht?
Je näher das Land an Russland liegt, desto größer ist die Sorge in Europa. Für Spanien und Italien ist Russland weit weg. Die Herausforderung, den Laden EU trotzdem politisch zusammenzuhalten, haben die Staats- und Regierungschefs auf zahlreichen Gipfeln bislang geschafft. Demokratie und Diplomatie waren bislang stärker als Putins Aggression. Wie lange wird Europa das durchhalten?
Schwere sicherheitspolitische Krise in Europa
Ende Januar war der russische Präsident zu Gast in Brüssel, beim EU-Russland-Gipfel. Über Partnerschaft wurde ein letztes Mal gesprochen. Ich habe nur wenige Meter von Putin entfernt die Pressekonferenz beobachtet. Er wirkte seltsam desinteressiert und gleichzeitig selbstbewusst. Damals ahnte ich noch nicht, was in der Ukraine geschehen würde. Hatte Putin schon einen Plan?
Und wie lange wird Russland durchhalten? Die Wirtschaftssanktionen der EU und der USA zeigen Wirkung und der Weltmarktpreis für Erdöl sinkt. Der Rubel ist im freien Fall. Die Sowjetunion ist wegen ihrer wirtschaftlichen Unterlegenheit implodiert. Erwartet Russland das gleiche Schicksal? Viele strategische Köpfe in Brüssel setzen darauf. Klar ist nur, der Konflikt wird noch Jahre dauern. Die ersten Opfer sind natürlich die Menschen in der Ostukraine, geopfert haben wir aber auch unser Gefühl der Sicherheit. Das Militärische muss in Europa wieder mitgedacht werden.
Die Eskalation der Krise in der Ukraine geschieht nur zufällig 100 Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges, der Urkatastrophe, wie er in den vielen Gedenkfeiern in Belgien genannt wird. Frieden in Europa ist auch nach den vielen schrecklichen Erfahrungen im letzten Jahrhundert keine Selbstverständlichkeit. Daran erinnern die Redner in Lüttich und Nieuwpoort an den großen Soldatenfriedhöfen. Die Diplomatie muss auf jeden Fall die Oberhand behalten. Das ist die Lehre aus dem Ersten Weltkrieg. Die akutelle Krise muss friedlich gelöst werden. Auch dafür steht das Jahr 2014.
Seit vielen Jahren begeistert sich Bernd Riegert für Europathemen. Anfang 2014 kehrte er als DW-Korrespondent für EU-Themen nach Brüssel zurück.