Mein Stück Heimat: Alaas verlorener Schlüssel
21. November 2015Tausende Flüchtlinge kommen derzeit in Deutschland an. Menschen, die Freunde und Familie, Arbeit und Wohnung, die ihre Heimat vielleicht für immer verlassen mussten. In unserer neuen DW-Reihe "Mein Stück Heimat" stellen wir Flüchtlinge und deren Geschichten aus ihrer Sicht vor: subjektiv und ohne zu werten. Und wir zeigen, welches Kulturgut ihnen so sehr am Herzen lag, dass sie es trotz lebensgefährlicher Flucht mitgenommen haben: ihr "Stück Heimat".
Er vermisse seine Familie, Freunde, den Ort, wo er geboren ist, Arbeit, kurzum alles, sagt Alaa Alatrash. Er ist palästinensischer Syrer und hat seine Heimat gefühlt gleich zwei Mal verloren. Seine Großeltern, sogenannte 48er-Flüchtlinge, sind nach der Staatsgründung Israels aus Nazareth nach Syrien geflohen. Alaa wurde in einem Flüchtlingscamp nahe der Stadt Hama geboren. "Ich hatte immer das Gefühl, vorübergehend da zu sein", beschreibt er sein Leben in Syrien, "auch, weil in meinem Pass 'Palästinenser mit vorläufigem Aufenthalt' stand".
Aufgewachsen ist er dann in einem Haus in einem vorwiegend von Palästinensern bewohnten Viertel in Damaskus. Eine Verbindung zur Heimat seiner Vorfahren gab es dennoch: Sein Großvater hatte ihm den Schlüssel zu ihrem alten Haus in Nazareth und Fotos von dort überreicht. Ein Vermächtnis, das für Alaa sowie für viele Palästinenser eine große Symbolkraft hat: "Palästina ist für uns die Idee von Freiheit."
Alaas "Stück Heimat" ist für immer verloren
Dass er den Schlüssel und die Fotos bei seiner Bootsflucht von der Türkei nach Griechenland mit vielen anderen persönlichen Sachen "über Bord geworfen" hat, daran möchte er sich am liebsten nicht erinnern. (Alaas "Stück Heimat" ist für immer verloren, symbolisch haben wir für unser Artikelbild daher ein Foto von seinem Elternhaus in Damaskus gewählt.) Auch Alaas Vater weiß, dass der "Schlüssel zu Palästina", sozusagen das Familienerbe, im Meer versunken ist. Ihm ist es viel wichtiger, dass seine Kinder leben.
Auch zwei Filme, die Alaa in Damaskus gedreht hat, sind in den Fluten verschwunden. Sie handelten von der Radikalisierung von Menschen, die erst gegen Assad demonstrierten, dann zur Waffe griffen und Bomben legten. In Syrien war Alaa für diese Filme verhaftet worden. Er will darüber nicht sprechen, auch nicht über die Grausamkeiten, die er auf beiden Seiten gesehen hat - bei Assads Truppen, aber auch bei der Opposition. Alaa hat Angst um seine Familie, die noch in Syrien ist. Seit drei Jahren hat er sie nicht mehr gesehen.
Paradies Deutschland?
2012 floh Alaa mit seiner Freundin Hamrin, eine Kurdin, erst in den Libanon und dann in die Türkei. "Dort gab es kein Leben für uns, wir waren illegal da", erzählt er. Hamrins Familie war da bereits die Flucht nach Deutschland gelungen. Sie folgte ihnen, allein. Alaa kam nach. Das ist nun fast zwei Jahre her. Alaa ist optimistisch: "Ich habe keine Angst vor der Zukunft, ich will meine Chance nutzen und mich weiterentwickeln." Er und Hamrin, beide in den Zwanzigern, haben letzten Monat geheiratet. Jetzt leben sie in einer kleinen Wohnung in Essen. Die Asylanerkennung haben sie für drei Jahre bekommen. Soweit alles gut. Aber natürlich ist die neue Heimat auch kein Paradies. Gerade deswegen heißt der Film, an dem Alaa gerade arbeitet, "Paradies Deutschland". Darin hat er Palästinenser und Syrer über Deutschland befragt, über ihre Erwartungen und Enttäuschungen. Viele sind ernüchtert, über die Bürokratie hier, über das endlose Warten. Manche wollen am liebsten zurück nach Syrien. Wenn es dort Frieden gäbe.
Jetzt scheint der Krieg erst mal nach Europa gekommen zu sein. Nach den Anschlägen in Paris gefragt, sagt Alaa, er habe keine Angst, dass die Stimmung in Deutschland gegen Flüchtlinge umschlage. Er glaube an Deutschland. Bislang habe er gute Erfahrungen gemacht. Er konnte seine Filmerfahrungen an Jugendliche in einem Videoprojekt in Dortmund weitergeben.
Zwischen Sehnsucht und Neuanfang
"Natürlich vermisse ich trotzdem so Vieles und würde so gerne die Heimat meiner Großeltern in Palästina besuchen. Die habe ich nie gesehen." Alaa, der sonst mit seiner schwarzen Brille und Lederjacke so cool wirkt, der gerne genau dann lacht, wenn es schwierig für ihn ist, zeigt plötzlich all seine Sehnsüchte und Verluste.
Trotzdem, er will sein Leben hier in die Hand nehmen. Er will Filme machen, hofft, dass er irgendwie Unterstützung für die Postproduktion seiner Flüchtlingsdokumentation bekommt. Zurück nach Syrien? Für ihn und seine Frau keine Option. Trotz aller Sehnsucht, ein Leben dort in Frieden, das ist so weit weg wie das Paradies.