Britische Elite-Soldaten ermordeten wehrlose irisch-nationalistische Katholiken: Der "Bloody Sunday" am 30. Januar 1972 wird vom nationalistischen Lager in Nordirland gerne herangezogen, um sich selbst als Opfer und Märtyrer zu stilisieren. Genauso oft wurde er jedoch instrumentalisiert, um die Morde der "Irisch-Republikanischen Armee" (IRA) und anderer Terrorgruppen zu rechtfertigen, die gemeinsam rund zwei Drittel der mehr als 3500 Morde in gut 30 Jahren Konflikt verübten.
So oder so gingen die Ereignisse vor genau 50 Jahren in Nordirlands zweitgrößter Stadt (London-)Derry als Wendepunkt in die Geschichte ein: In einer politisch schon vorher aufgeladenen Stimmung erschossen britische Soldaten 13 unbewaffnete Teilnehmer einer Bürgerrechts-Kundgebung. Nach heutigem Kenntnisstand ging es den Befehlshabenden darum, Härte zu zeigen und das Gewaltmonopol des Staates zu demonstrieren. Die Folge war jedoch, dass der gegenseitige Hass zwischen den irisch-katholischen Nationalisten - die sich mehr der Republik Irland zugehörig fühlen - und den meist protestantischen Unionisten - die für den Verbleib im Vereinigten Königreich sind - noch weiter wuchs. Die IRA verzeichnete sehr viele Neueintritte und drehte die Spirale der Gewalt weiter: 1972 wurde mit fast 500 Todesopfern das blutigste Jahr im gesamten Konflikt.
Gründlich aufgearbeitet - aber nicht vor Gericht
Von den mehr als 3500 Morden im Verlauf des Nordirlandkonflikts sind nur wenige so gründlich aufgearbeitet wie die tödlichen Schüsse vom "Bloody Sunday": Es handelt sich um das einzige Ereignis der britischen Geschichte, das von gleich zwei richterlichen Kommissionen untersucht wurde.
Der hastig verfasste erste Untersuchungsbericht aus dem April 1972 diente wohl nur dem Zweck, die Soldaten zu entlasten. Der 38 Jahre später vorgestellte Saville-Bericht jedoch rekonstruiert minutiös die Abläufe und lässt keine Zweifel zu: Die Fallschirmjäger haben ohne Not mit scharfer Munition auf Zivilisten geschossen - im Auftrag der britischen Regierung wurden 13 britische Bürger ermordet.
2010, nach Fertigstellung des Berichts, bat der damalige Premierminister David Cameron um Verzeihung. Für die Hinterbliebenen, die so lange gegen die tendenziöse Darstellung des ersten Berichts gekämpft hatten, war das ein wichtiger Etappensieg. Doch heute, 50 Jahre nach dem Schicksalstag, ist ungewisser denn je, ob auch nur einer der Todesschützen jemals strafrechtlich dafür belangt wird.
Boris Johnsons gefährlicher Schlussstrich
Die größte Gefahr für die weitere Aufarbeitung des "Bloody Sunday" und aller anderen Gräueltaten des Nordirland-Konflikts hat die Regierung in London heraufbeschworen: Boris Johnson, der freilich gerade noch ganz andere Sorgen hat, will erklärtermaßen einen "Schlussstrich" unter den Konflikt ziehen. Im vergangenen Sommer hat die Regierung Eckpunkte für ein Verjährungsgesetz veröffentlicht, das jeglicher Aufarbeitung einen Riegel vorschieben würde. Ermittlungen gegen staatliche Akteure und Prozesse wären unmöglich, sogar laufende Verfahren würden abgebrochen. Aus allen Ecken der nordirischen Zivilgesellschaft kam entrüsteter Protest gegen diese Vollbremsung.
Ob diese weitreichenden Pläne jemals Gesetz werden, ist ungewiss. Aber schon der Vorschlag zeigt einmal mehr: Johnson verfährt in Nordirland mit der Methode Holzhammer - obwohl infolge des Konflikts doch deutlich filigraneres Werkzeug angemessen wäre.
Neuer Zündstoff nach dem Brexit
Einen Hammerschlag haben auch schon die Unionisten abbekommen, insbesondere die konservative Partei DUP, die die nordirische Regionalregierung mit ihrem irisch-nationalistischen Koalitionspartner Sinn Féin anführt. Die DUP hatte 2016 für den EU-Austritt des Vereinigten Königreichs geworben, in der Hoffnung, dieser würde Nordirland wirtschaftlich und politisch enger an Großbritannien anbinden. Das versprach auch Johnson bei seiner Amtsübernahme - bevor er Nordirland fallen ließ wie eine heiße Kartoffel, um englische Brexit-Hardliner zufriedenzustellen.
Heute ist Nordirland dank eines Zusatzprotokolls im Austrittsvertrag de facto weiter Teil des EU-Binnenmarkts, während der Handel mit Großbritannien erschwert ist. Für Nordirland hat sich das im ersten Brexit-Jahr durchaus gelohnt - man denke an die zahlreichen Versorgungsengpässe in Großbritannien. Doch für die Unionisten ist es schwerer Verrat. Ihr Lager ist politisch gespalten, und so ist denkbar, dass bei den Regionalwahlen im Mai Sinn Féin triumphiert - also das irisch-nationalistische Lager, das sich nach jahrzehntelanger Unterdrückung nun in einer Position der Stärke sieht und jetzt selbstbewusst sogar eine Vereinigung Nordirlands mit der Republik Irland fordert.
In Nordirland sorgt das alles für neuen Frust - in einer Gesellschaft, in der große Teile sich immer noch einem der beiden Lager zugehörig fühlen. 50 Jahre nach dem "Bloody Sunday" sind gegenseitiges Misstrauen und Verbitterung immer noch groß. Aber schon fast die Hälfte der 50 Jahre, nämlich seit dem Karfreitagsabkommen von 1998, herrscht ein relativer Frieden in Nordirland. Zuallererst der Brexit und die durch ihn ausgelöste Diskussion um Wiedervereinigung, aber auch unvorsichtige Schritte wie die Amnestie-Pläne, bergen neuen Zündstoff. Doch die überwiegende Mehrheit in Nordirland will um keinen Preis neue Gewalt und Instabilität. Der Frieden wird auf eine Probe gestellt - die Politik und die nordirische Bevölkerung werden beweisen müssen, dass sie aus der Geschichte gelernt haben.