Vizepräsidentin Kirchner, treten Sie zurück!
Es kommt nicht alle Tage vor, dass ein führendes Mitglied einer Regierung noch während seiner aktiven Amtszeit von der Justiz des eigenen Landes angeklagt und verurteilt wird. Besonders spektakulär ist der Fall von Cristina Fernandez Kirchner in Argentinien.
Die amtierende Vizepräsidentin und Ex-Präsidentin Argentiniens steht im Zentrum eines jahrelangen Prozesses, der mit einem Urteilsspruch nun seinen vorläufigen Höhepunkt fand. Am Dienstag verurteilte ein Gericht in Buenos Aires die mächtigste Frau des Landes wegen Korruption zu sechs Jahren Haft und einem lebenslangen Ausschluss von der Ausübung öffentlicher Ämter. Gegen das Urteil kann Widerspruch eingelegt werden; es ist noch nicht rechtskräftig.
Vergöttert und verhasst
Kirchner polarisiert von jeher das Land. Sie wird von vielen Argentiniern gehasst und von mindestens ebenso vielen vergöttert. In ihrer Macht und ihrem Einfluss auf die unteren Schichten der argentinischen Gesellschaft wird sie oft mit Eva Perón verglichen.
Kirchner war von 2007 bis 2015 Präsidentin des südamerikanischen Landes und ist die Witwe ihres direkten Amtsvorgängers Néstor Kirchner. Derzeit ist sie Vizepräsidentin der Regierung von Präsident Alberto Fernandez und einflussreiche Strippenzieherin.
Kirchner ließ in den über drei Jahren seit Beginn der Gerichtsverhandlungen keine Gelegenheit aus, um das Gerichtsverfahren als politisch motiviert zu diskreditieren. "Sie sind nicht hinter mir her, sie sind hinter Euch her', wiederholte sie immer wieder und übernahm damit einen Ausspruch von Donald Trump.
Populistische Politiker, und zu dieser Kategorie zählt Frau Kirchner allemal, tendieren häufig dazu, sich selbst mit dem Wohl des eigenen Landes gleichzusetzen beziehungsweise Angriffe auf ihre Person als Angriffe auf ihre Wählerbasis darzustellen.
Entsprechend war die Ex-Präsidentin überzeugt, dass "dies kein Prozess gegen Cristina Fernández, sondern ein Prozess gegen den Peronismus und gegen linksgerichtete Regierungen ist." Sie beklagte "politische und mediale Verfolgung".
Justiz als Spielball der Politik
Ja, die Justiz wird in vielen lateinamerikanischen Ländern politisch instrumentalisiert. Das ist nicht neu. Zu den international bekannteren Fällen zählen die umstrittenen Prozesse gegen den früheren und wieder gewählten Präsidenten Brasiliens, Luiz Inácio Lula da Silva, und der Prozess und die Verurteilung der Übergangspräsidentin Jeanine Añez in Bolivien.
Doch die eigentlichen Verantwortlichen sind die Politiker, ob nun von rechts oder links, die immer wieder die Justiz für ihre Machtspiele missbrauchen. Und somit dazu beitragen, das Vertrauen demokratische Institutionen zu untergraben.
Die Anhänger von Cristina Kirchner werden sich durch dieses Urteil in ihrem Glauben bestärkt fühlen, dass die Vizepräsidentin Opfer eines politischen Komplotts wurde. Ihre Gegner hingegen wollen sie schnellstmöglich hinter Gittern sehen.
Die Korruptionsvorwürfe selbst treten dabei in den Hintergrund. Der eigentliche Verlierer dieses Prozesses ist nicht Cristina Kirchner, sondern der Glaube an die Rechtsstaatlichkeit und die Unabhängigkeit der Justiz. Die fortschreitende Polarisierung und Verschärfung des politischen Klimas in Argentinien könnte sich bei den kommenden Präsidentschaftswahlen 2023 noch bitter rächen.
Und es gibt noch einen Aspekt, der bisher leider ein wenig zu kurz kam. Warum ist Frau Kirchner eigentlich nicht schon längst zurückgetreten? Gehört es nicht zu einem Mindestmaß an politischem Anstand, dass man bei so schwerwiegenden Vorwürfen schon vor einer Verurteilung von allen politischen Ämtern zurücktritt?
In Österreich ist Sebastian Kurz wegen Korruptionsermittlungen im Oktober 2021 als Bundeskanzler zurückgetreten. Frau Kirchner sollte sich spätestens jetzt ein Beispiel nehmen.