Von außen betrachtet ähneln sich die Skandinavier: sehr progressiv, wohlstandsverwöhnt, mit extrem hohen Steuern auf Bier. Aber das alles ist natürlich grober Unfug. In Wirklichkeit bestehen zwischen den einzelnen skandinavischen Nationen Unterschiede, die so groß sind, wie ein norwegischer Fjord tief ist.
Das beginnt damit, dass sich die Skandinavier untereinander nicht grün sind. Wer mit einem Dänen redet, erfährt ungefragt, dass die Schweden arrogant seien. Die Schweden wiederum halten die Dänen für Exzentriker. Beide Völker verbindet der Neid auf die wegen ihrer riesigen Öl- und Gasvorkommen neureichen Norweger.
Modell des mündigen Bürgers
Was die Sache noch komplizierter macht: Manche Stereotypen und Vorurteile stimmen eben doch ein wenig. So entwickelten die Schweden ihr eigenes Modell der Pandemie-Bekämpfung. Nicht Politiker entschieden, was zu tun sei, um der heimtückischen Krankheit Herr zu werden. Sie überließen das Feld Wissenschaftlern.
Die gaben über die Medien Ratschläge, wie die Bürger sich verhalten sollten: Hände waschen, Abstand halten. Empfehlungen, denen die Schweden folgen konnten oder auch nicht. Ein strenger Lockdown oder hohe Geldstrafen bei Zuwiderhandeln wie in anderen Staaten passte nicht zum schwedischen Modell des mündigen Bürgers, der sich um seinen Schutz selbst kümmert. Mit fatalen Folgen, wie sich später zeigte.
Zuerst beruhigten Schwedens Wissenschaftler die Bevölkerung: Es sei unwahrscheinlich, dass sich die Pandemie im dünn besiedelten Land ausbreiten werde. Restaurants, Schulen, Geschäfte blieben offen. Doch das Virus machte nicht Halt vor Schwedens Grenzen. Es breitete sich wie überall in der Welt aus, besonders in den Alten- und Pflegeheimen. Die Infektions- und Todeszahlen waren deutlich höher als in den Nachbarstaaten. Das Erstaunliche ist, dass dieser Misserfolg nicht die Autorität von Schwedens Experten untergrub. Mehr noch, sie zogen und ziehen bis heute in Zweifel, was die Weltgesundheitsorganisation immer wieder verkündet: Das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes schützt vor Corona.
Ende der Corona-Restriktionen
Jetzt (29.9.) heben die Schweden - wie zuvor schon die Dänen und Norweger - fast alle Corona-Restriktionen auf. Die Experten begründen dies mit der hohen Impfquote, besonders im älteren Teil der Bevölkerung. Jeder, der sich impfen lassen wollte, konnte dies in den vergangenen Monaten tun. Wer es dennoch nicht tat - selbst schuld. Alle skandinavischen Länder verfügen über ein hoch entwickeltes, digitalisiertes Gesundheitssystem. Zudem gibt es genügend freie Betten auf den Intensivstationen.
Trotz der vergleichsweise hohen Opferzahl: Die meisten Schweden sind durchaus zufrieden mit ihrer nationalen Strategie gegen Corona, vertrauen weiterhin dem Staat. Sie verweisen darauf, dass die Pandemie Schwedens Wirtschaft weniger geschädigt hat als anderswo. Sie erklären, dass Schulen und Kindergärten die ganze Zeit über offen blieben. Selbst wenn in den vergangenen Monaten ein Lehrer an Corona erkrankte: Solange sich die Beschwerden in Grenzen hielten, konnte er weiter unterrichten. So etwas ist undenkbar in anderen EU-Ländern, wo infizierte Pädagogen selbstverständlich zu Hause bleiben, weil sie sonst das Virus weiter verbreiten.
Andererseits funktioniert der schwedische Sozialstaat nur mit offenen Kindergärten und Schulen. Wegen der hohen Steuern haben Familien keine Wahl: Väter und Mütter müssen Geld verdienen, um die Familie durchzubringen. Wohnraum in Stockholm ist knapp und teuer. Tagsüber müssen die Kinder also betreut werden, damit beide Eltern arbeiten können.
Beißhemmungen
Anders als deutsche, französische oder britische Journalisten, die ihre Regierungen bei Fehlern scharf kritisieren, hat die schwedische Presse Beißhemmungen. Sie erklärt lieber, erläutert umfassend: konstruktiver Journalismus, der den Wohlfühlstaat nicht infrage stellt. Auch das trägt dazu bei, dass es den Schweden schwerer fällt, die eigenen Fehler bei der Bekämpfung von Corona aufzuarbeiten.
Es stimmt wirklich: Die Schweden sind anders.