Macrons riskanter Kurs gegenüber dem Islam
Es ist eigentlich nicht üblich, im Innenhof der altehrwürdigen Pariser Sorbonne Pop-Songs abzuspielen. Doch als am Mittwoch vergangener Woche (21.10.) der Sarg von Samuel Paty hinausgetragen wurde und "One" von U2 erklang, wunderte sich längst niemand mehr. Es war das Lieblingslied des Lehrers, der von einem islamistischen Terroristen brutal getötet worden ist. Und an diesem Abend des Gedenkens an Paty ahnte man auch, dass "One" - "Wir sind eins"- nun ein Kampfbegriff für Emmanuel Macron werden wird. Der konfrontative Kurs gegenüber dem radikalen Islam, den der französische Präsident seitdem fährt, birgt aber eigene Gefahren.
Der grauenhafte Mord an Paty verunsichert eine ohnehin gespaltene Gesellschaft. Wenig ist übrig geblieben vom strahlenden Lächeln des jungen Präsidenten am Abend des Wahlsieges 2017, von seiner Ankündigung, die Franzosen hätten mit ihm "Hoffnung und Lust auf Zukunft" gewählt. Es war ein Sieg über den "Front National" von Marine Le Pen, einer Partei, die vor allem Angst und Hass schürt. Doch "Krise" wurde zum wahren Schlagwort der Ära Macron. Auf die Proteste der "Gelbwesten" folgten Streiks, die das Land monatelang lähmten. Jetzt die Corona-Pandemie mit ihren bislang 35.000 Toten. Das Land ist in die Knie gegangen. Die Franzosen müssen derzeit abends zuhause sitzen, sie dürfen das Haus nicht verlassen. In dieser Lage braucht Frankreich den gesellschaftlichen Zusammenhalt mehr denn je.
Ein Angriff auf die französische Identität
Und nun die regelrechte Hinrichtung von Samuel Paty. Der Lehrer wurde auf dem Heimweg von seinem Mörder enthauptet. Paty hatte im Unterricht umstrittene Mohammed-Karikaturen gezeigt. Doch dass sein Tod derart heftige Reaktionen hervorgerufen hat, lässt sich nicht allein durch die barbarische Tötungsart erklären. Der Mord ist für viele ein Angriff auf Fundamente der französischen Nation. Denn nichts ist dem Franzosen heiliger als die "Laïcité", die Trennung von Religion und Staat einerseits und das öffentliche Bildungssystems andererseits, das Generationen von Schülern mit den Werten der "République" geprägt hat.
Macron nimmt den Kampf auf gegen den gemeinsamen Feind aller freiheitsliebender Menschen, den islamischen Fundamentalismus. In den vergangenen Tagen kündigte er eine Reihe von Maßnahmen an, um den Islam im Land zu reformieren und ausländische Einflussnahme auf Moscheen zu unterbinden. Es geht ihm darum, die Franzosen vor weiterem religiös begründetem Terror zu schützen. Das ist nachvollziehbar und sinnvoll.
Doch das Pochen auf Laïzität macht die Debatten schwierig. Der ermordete Lehrer hatte den Schülern, die sich durch die Karikatur möglicherweise beleidigt fühlen könnten, immerhin angeboten, den Klassenraum zu verlassen oder wegzuschauen. Macron hat dagegen lautstark ein "Recht auf Blasphemie" postuliert, ein Gesetz gegen "islamischen Separatismus" angekündigt - und hat den Islam pauschal als Religion bezeichnet, die sich weltweit in der Krise befände. Sein Innenminister behauptete unlängst, er sei schockiert, wenn er im Supermarkt Koscher- und Halal-Fleischtheken sähe. Dort, sagte Gérard Darmanin, fange es schon an, dass Menschen sich in Parallelgesellschaften verschanzten.
Wo hat die Republik versagt?
Seit dem Massaker in der Redaktion von Charlie Hebdo im Januar 2015 kamen 260 Menschen bei islamistischen Anschlägen in Frankreich ums Leben. Damit belegt das Land einen makaberen Spitzenplatz in Europa. Frankreich lebte also schon vor Macron mit der Gefahr des Islamismus. Diesen nun erfolgreich zu bekämpfen, erfordert mehr als nur scharfe Worte und Symbolpolitik. Denn nirgendwo in Europa leben so viele junge Muslime ohne Perspektive am Rand der Gesellschaft. Der Islam gibt ihnen eine Identität, die ihnen die französische Nation auch nach zwei Generationen nicht selbstverständlich bietet - öffentliches Schulsystem hin oder her. Das ist keine Rechtfertigung oder Entschuldigung, bleibt aber für die Problemanalyse wichtig. Es muss darüber nachgedacht werden, warum die islamistische Verlockung so groß ist. Und wo die Republik versagt hat.
Macrons Aufgabe gleicht einem Drahtseilakt: Er muss den Einfluss des politischen Islams in Frankreich unter Kontrolle bekommen, ohne den 5,4 Mio in Frankreich lebenden Muslimen das Gefühl zu geben, sie stünden unter Generalverdacht. Es geht darum, die ganze Gesellschaft wieder zu einen. Das ist eine Herausforderung, an der Emmanuel Macron nicht scheitern darf. Er hat es ungleich schwerer als seine Gegnerin bei den kommenden Wahlen in anderthalb Jahren. Denn Marine Le Pen geht gewöhnlich mit sehr viel einfacheren Lösungen hausieren.