Der EU-interne Streit über die 1,8 Billionen Euro der nächsten siebenjährigen Haushaltsperiode und des Corona-Fonds ist Musik in den Ohren Chinas und Russlands. Nebenbei dient er auch der neuen US-Regierung unter Präsident Joe Biden als weiterer Beleg, dass die EU weiterhin nur ein Vorgarten der US-Interessen bleibt, statt die viel diskutierte "Souveränität Europas" auch nur annähernd zu verkörpern.
Genau die will der französische Präsident Emmanuel Macron mit aller Macht. Und widersprach dabei der deutschen Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer, die gerade eine "europäische strategische Autonomie" als "Illusion" bezeichnete. "Die Europäer können die entscheidende Rolle der USA als Garant für Sicherheit nicht ersetzen", beschrieb sie den Ist-Zustand. Der wurde durch die kurz darauf folgende Grundpanik bei allen US-Verbündeten bestätigt: Trump ließ verlauten, er werde bis Januar noch einen großen Teil der amerikanischen Truppen in Afghanistan und dem Irak abziehen. Nein, natürlich können die Europäer auch dieses Vakuum nicht füllen.
Souveränität à la française
Bei genauem Hinsehen liegen Emmanuel Macron und Annegret Kramp-Karrenbauer in den Zielen für Europa erst einmal gar nicht so weit auseinander. "Unser Anspruch muss es sein, dass Deutschland und Europa die eigene Nachbarschaft und die globale Ordnung aktiv mitgestalten", formulierte die Verteidigungsministerin in ihrer zweiten Grundsatzrede vor Studierenden der Bundeswehr-Universität. Nur sieht Macron diese Aufgabe eher - naja - französisch "grande".
Weit über Verteidigungsfragen hinaus will der Präsident der einzigen in der EU verbleibenden Atommacht auch wirtschaftlich und gesellschaftlich "etwas in Gang setzen, das man als 'Paris-Konsens' bezeichnen könnte" und das den "Washington Konsens" des globalen Kapitalismus hinterfragen soll. Während Deutschland die Europäische Union weiter fest als Teil der USA-geführten westlichen Wertegemeinschaft sieht, widerspricht Macron deutlich: "Unsere Werte sind nicht so ganz dieselben", denn Europa habe "eine Vorliebe für Gleichheit, wie sie in den Vereinigten Staaten nicht zu beobachten ist". Doch bei diesem Schritt weg von der amerikanisch geprägten westlichen Wertegemeinschaft steht Macron noch alleine auf weiter Flur.
Merkel korrigiert - und schweigt
Die deutsche Kanzlerin geht auf solch amerikakritisches Verhalten daher erst gar nicht ein. Betonte sie doch zu Trump-Zeiten umso mehr, dass die USA Europas wichtigster Verbündeter sind. Doch sie korrigiert Macron dennoch dort, wo es für sie darauf ankommt: beim Geld. Konkret: bei Macrons Feststellung, dass die Transferunion und die gemeinsame Aufnahme von Schulden in der EU ein "entscheidender Punkt" seien, um den Euro zu einer echten Gemeinschaft auszubauen. Diese Maßnahme, bei der Deutschland auch für die Schulden anderer Länder haftet, sei "einmalig" und "zeitlich begrenzt", lässt sie ihren Regierungssprecher betonen.
Die explosivste Aussage der Verteidigungsministerin dürfte am Ende in ihrem Anspruch an die deutsche Politik liegen. Da fordert sie ganz offen, dass "unbequeme Wahrheiten" der Öffentlichkeit auch zugemutet werden müssen. Damit meint sie die geopolitische Lage, vor allem den Systemwettbewerb mit China. Vor kurzem bedauerte der Vorsitzende ihrer eigenen Parlamentsfraktion, Ralph Brinkhaus, noch ausdrücklich, dass außenpolitische Themen "leider" auch ein Rolle im Wahlkampf vor der Bundestagswahl 2021 spielen könnten.
Befreit von Angela Merkel
Selbst Angela Merkel in ihrer letzten Amtszeit scheut die Frage einer öffentlichen Debatte über Drohnen, deutsche Truppen im Ausland oder gar das Durchsetzen deutscher Interessen mit militärischen Mitteln. So ist der Vorstoß von Annegret Kramp-Karrenbauer ein interessanter Ausblick auf die Zeit nach Merkel von der Frau, die schon jetzt an dem Versuch ihr nachzufolgen gescheitert ist. Deutschlands Verteidigungsministerin ist deshalb schon jetzt das, was ihre Partei genauso fürchtet, wie sie sich danach sehnt: befreit von Angela Merkel.