Ein Ausländer mit ständigem Wohnsitz in Deutschland hat in diesen Tagen nicht wenig zu staunen. Es ist schon faszinierend, mit welchem Engagement, ja mit welcher Lust zurzeit in deutschen Medien Deutschland-Bashing betrieben wird. Im Zusammenhang mit offensichtlichen Mängeln bei der Bewältigung der Corona-Krise wurde dem Land eine "neue deutsche Unfähigkeit" attestiert, man spricht vom "multiplen Politikversagen" und von "strukturellem Versagen", es ist gar von "Staatsversagen" die Rede.
Nun, es mag ja eine deutsche Eigenart sein, dass man sich gerne in den Extremen bewegt. So schlägt das Pendel, nachdem man sich in der ersten Pandemiewelle vor einem Jahr noch in dem Staunen des Auslands darüber, wie verhältnismäßig gut das Land durch sie durchgekommen ist, gesonnt hat, jetzt in das andere Extrem. Bemerkenswert ist dabei, wo man die Ursache dafür findet: Es sei "die Kleinstaaterei", der "Flickenteppich", hört man von vielen Seiten - diese abschätzigen Bezeichnungen beziehen sich auf den Föderalismus als Staatsstrukturprinzip der Bundesrepublik.
Verfassungspatriotismus heißt Verfassung achten
Mitte der 1980er-Jahre hat der deutsche Philosoph Jürgen Habermas eine elegante Lösung für das Hadern mit dem geschichtlich schwer belasteten Konzept eines ethnisch geprägten Patriotismus angeboten: man solle einen Verfassungspatriotismus pflegen. Der Vorschlag wurde überwiegend dankend angenommen - ein Alleinstellungsmerkmal in der Welt. Die deutsche Verfassung organisiert den Staat konsequent nach föderalen Prinzipien.
Viele verschiedene Akteure in Entscheidungsprozesse einzubinden und somit auch die Verantwortung auf viele Schultern zu verteilen, ist eines der Gründungsprinzipien Nachkriegsdeutschlands. Und das aus guten Gründen: Das letzte Mal, dass das Land zentralistisch organisiert war (nach dem Prinzip "Ein Volk - Ein Land - Ein Führer") endete bekanntlich in einer Katastrophe. Deswegen kann man in Deutschland nicht "durchregieren", wie sich das viele zurzeit wünschen. Durch die spezifische Ausprägung von "checks and balances" hat man im Laufe der Jahre in Deutschland eine Praxis der Kompromisssuche entwickelt.
Föderalismus versus Zentralismus
In Krisensituationen treten nun aber auch die Nachteile deutlich hervor. Denn Föderalismus, mit Demokratie gepaart, ist kompliziert, langsam und teuer. Kompromiss- und Konsenssuche brauchen Zeit, sind kraftraubend und zermürbend. In der Krise wirkt das so, als ob die Zauderer regieren, als sei das Politikgetriebe voller Sandkörner. Viele sind dadurch verunsichert, man wünscht sich jemanden, der oder die sagt, wo es lang geht. Das ist verständlich.
Aus dem Dilemma Föderalismus versus Zentralismus könnte man durch temporäre Lösungen herausfinden. Es ist durchaus denkbar, ein bundesweit geltendes Katastrophenschutzgesetz (bisher den Ländern überlassen) zu verabschieden, mit weitreichenden Zuständigkeiten. Oder das jetzt schon bestehende Infektionsschutzgesetz mit mehr Möglichkeiten auszustatten und an klare, eindeutige Bedingungen zu knüpfen.
Kompromisssuche als Prinzip
Dennoch sollte man dabei zwei Dinge vor Augen haben. Einerseits ist da, wo die Macht in wenigen Händen konzentriert ist, keinesfalls die Gefahr geringer, falsche Entscheidungen zu treffen. Dafür gibt es - auch in der jetzigen Corona-Krise - genug Beispiele, auch in der unmittelbaren Nachbarschaft. Frankreich etwa kann nicht unbedingt als Paradebeispiel für erfolgreiche Pandemiebekämpfung gelten.
Andererseits mag es sein, dass Demokratie und Föderalismus langsam und teuer sind; auf lange Sicht sind sie aber eben doch billiger und effizienter als Autokratie oder Diktatur. Jahrzehntelang ist Deutschland damit sehr erfolgreich gefahren.
Auch dafür wurde Deutschland im Ausland oft bewundert und beneidet, nicht nur, weil man gute Autos baut. Und viele Ausländer wollen nicht nur hierher kommen, weil sie hier einen Job finden und verhältnismäßig gut verdienen, sondern auch, weil sie hier gut und sicher und frei leben können.