Indiens Regierung trägt Schuld an der Corona-Krise
Die Bilder, die in den vergangenen Tagen aus Indien kamen, sind erschütternd - und das meine ich nicht nur metaphorisch. Scheiterhaufen, so weit das Auge reicht, Unmengen von Menschen, die vor Krankenhäusern sterben, Familienmitglieder, die verzweifelt nach Sauerstoffflaschen für ihre Liebsten suchen. Indien sieht aus wie ein Kriegsgebiet, in dem die Menschen in Massen durch den Feind sterben. Die Dinge wären anders gelaufen, wenn man das Potenzial des Feindes nicht unterschätzt hätte.
Noch vor ein paar Monaten hatte Indien begonnen, wieder zur Normalität zurückzukehren. Die Menschen waren überzeugt, dass das tödliche Coronavirus überwunden sei. Während einige behaupteten, die Inder verfügten über eine besonders große Immunität, spotteten andere über die westlichen Länder, die nicht in der Lage seien, etwas so kleines wie einen Virus einzudämmen. Das war das Ende der ersten Welle. Es war die Zeit, wieder tief durchzuatmen. Es wäre aber auch die Zeit gewesen, sich auf die zweite Welle vorzubereiten. Es wäre die Zeit gewesen, von Ländern zu lernen, die bereits von der nächsten Infektionswelle getroffen waren. Stattdessen betrachtete Premierminister Narendra Modi diese Phase als Gelegenheit, seinen Wahlkampf zu starten.
Politik über alles andere
Während anderswo Großereignisse wie die Olympischen Spiele in Tokio abgesagt wurden, bereitete sich Indien auf die größte religiöse Versammlung des Landes, das Maha Kumbh, und auf Regionalwahlen vor. Wie bei jeder anderen Wahl wollte Modis hindu-nationalistische Partei BJP auch dieses Mal nichts unversucht lassen. Die BJP sorgte dafür, dass sie größere Kundgebungen organisierte als jede der anderen Parteien.
Tatsächlich bedankte sich Modi bei einer seiner Kundgebungen im Bundesstaat Westbengalen mit den Worten, er habe "noch nie so große Menschenmengen bei einer Kundgebung gesehen." Diese riesigen Menschenmengen hätten Anlass zur Sorge sein müssen. Und auch Experten schlugen Alarm.
Aber Indiens Innenminister Amit Shah antwortete schnell, dass es keinen Zusammenhang zwischen der steigenden Zahl von Coronavirus-Infektionen und dem Wahlkampf gebe, da "die Fälle auch in Staaten, in denen keine Wahlen stattfanden, stark anstiegen."
Verleugnung der Realität
Es war nicht nur der Innenminister, der die Realität verleugnete. Yogi Adityanath, der Ministerpräsident von Indiens bevölkerungsreichstem Bundesstaat Uttar Pradesh, hat kürzlich behauptet, dass es keine Sauerstoffknappheit gebe und dass gegen Krankenhäuser, die solche Gerüchte verbreiten, vorgegangen werde. Und das zu einer Zeit, in der Krankenhäuser Menschen aufgrund von Sauerstoffmangel abweisen müssen!.
In Yogis Bundesstaat klagen die Arbeiter in den Krematorien, dass sie keinen Platz mehr haben, da sie mindestens zehnmal mehr Leichen als normal erhalten. In den meisten Fällen starben die Kranken, bevor sie das Krankenhaus erreichten, so dass die Todesursache nie festgestellt wurde.
Nach offiziellen Angaben hat das Virus in Indien bisher mehr als 200.000 Todesopfer gefordert. Doch aufgrund der nur lückenhaften Erfassung der Fälle ist offensichtlich, dass die tatsächlichen Zahlen viel höher sind.
Warten auf den 'Messias'
Indiens Mittelschicht sieht in Narendra Modi einen Messias. Jemand, der dazu ausersehen ist, ihr Elend zu beseitigen. Mit dieser Hoffnung haben die Menschen in Indien in großer Zahl für ihn gestimmt - nicht nur einmal, sondern zweimal. Der Slogan "Modi hai to mumkin hai" ("Wenn Modi da ist, ist alles möglich") hallt immer noch in der indischen Mittelschicht nach.
Und so war im vergangenen Jahr, als Modi die Menschen aufforderte, Diyas anzuzünden und Thalis zu schlagen, die Begeisterung beispiellos. Die Menschen waren überzeugt, dass Modi wusste, wie er ihre Sicherheit garantieren könne. Er bat sie, auf ihre Balkone zu kommen und neun Minuten lang zu klatschen, und sie folgten. Er bat sie, eine brennende Kerze zu halten, und sie folgten. Er bat sie, zu Wahlkundgebungen zu kommen, und sie folgten.
Zensur ist kein Ausweg
In Demokratien wird von Regierungen erwartet, dass sie Verantwortung übernehmen, wenn etwas schief läuft. Aber die Modi-Regierung hat einen anderen Weg eingeschlagen, indem sie Kritik in den Sozialen Medien zensiert. Twitter hat Dutzende von Beiträgen gelöscht, die das Missmanagement der Situation belegten. Es ist davon auszugehen, dass Facebook und Instagram diesem Kurs folgen werden.
In Zeiten, in denen die Menschen das Vertrauen in die Regierung verlieren, bleiben die Sozialen Medien oft ihre einzige Hoffnung. WhatsApp-Gruppen, Facebook-Seiten und Twitter-Feeds werden genutzt, um Hilfe zu organisieren. Aber wenn ihnen selbst dies im Namen der Rettung der "Souveränität und Integrität" des Landes genommen wird, welche anderen Möglichkeiten bleiben dann noch?
Es ist an der Zeit, dass die indische Regierung das Leugnen beendet und die Verantwortung für das Chaos übernimmt. Für die Menschen im Land wird mit jedem Tag deutlicher, dass ihr Messias sie im Stich gelassen hat.
Dieser Text wurde aus dem Englischen adaptiert von Felix Steiner.