Mit einer Hand hält der australische Soldat den kleinen Jungen tröstend am Kopf fest und mit der anderen Hand hält er ihm ein blutverschmiertes Messer an die Kehle. Der Junge, völlig verängstigt, steht starr vor Schreck. Mit seinen Händen klammert er sich an ein junges Lamm. "Hab keine Angst. Wir kommen, um Frieden zu bringen", steht am unteren Rand des Bilds in Englisch. Wie Untertitel, die die Worte des grinsenden Soldaten wiedergeben sollen. Zu ihren Füßen die australische und die afghanische Flagge.
Dieses Bild, das in dieser Aufmachung offensichtlich eine Fotomontage ist, wurde von einem chinesischen Regierungsvertreter auf Twitter gepostet und bezieht sich auf die verstörenden Berichte über Kriegsverbrechen australischer Elitesoldaten in Afghanistan, deren Details seit Mitte November Stück für Stück ans Licht kommen. In Peking sei man schockiert über die Gräueltaten der australischen Armee und verurteile diese aufs Härteste, heißt es im Tweet. Canberra reagierte empört: Der australische Premier berief prompt eine Pressekonferenz ein. Und es wurden Rufe laut, chinesische Diplomaten auszuweisen, um eine klare Botschaft nach Peking zu senden. Berechtigt?
Doppelmoral oder Augenwischerei?
Diese Doppelmoral Chinas ist bezeichnend und keineswegs überraschend. Peking werden schließlich seit Jahren gravierende Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen und es begeht gleichzeitig vor den Augen der Welt einen Genozid an den Uiguren. Von einem autokratischen Regime wie dem in China erwartet man aber auch kaum etwas anderes.
Viel mehr Augenwischerei begeht jedoch eine westliche Regierung wie die Australiens, wenn sie sich auf eine PR-Kampagne Chinas stürzt und dabei vom eigentlichen Thema ablenkt: So wird das Leben von Afghanen wieder einmal zum Spielball von politischen Interessen, anstatt ihnen den gebührenden Respekt zu zollen. Im Mittelpunkt müssen die betroffenen Menschen stehen, nicht die diplomatischen Spielchen mit anderen Staaten.
Selbstverständlich ist es zu begrüßen, dass Australien als erste westliche Regierung Kriegsverbrechen in Afghanistan offen eingeräumt hat und diese nun auf dem Rechtsweg untersuchen lassen will. Wir können aber davon ausgehen, dass die bisher vorliegenden Berichte nur einen Ausschnitt von dem zeigen, was in Afghanistan tatsächlich passiert ist und immer noch passiert.
Terror im "Krieg gegen den Terror"?
Australien, das insgesamt etwa 26.000 Soldaten nach Afghanistan entsandte, hat einen vergleichsweise kleinen Anteil am NATO-geführten internationalen Militäreinsatz. Die USA mit ihren 775.000 Soldaten im Afghanistan-Einsatz stellten das mit Abstand größte Truppenkontingent. Das Land, das für Guantanamo und Abu Ghraib steht. Und damit eine Ahnung von dem vermittelt, was sich wahrscheinlich auch in Afghanistan abgespielt hat. Die Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC), Fatou Bensouda, sammelt seit Jahren Informationen zu möglichen Kriegsverbrechen, die seit 2003 im Afghanistan-Konflikt begangen wurden. Als Antwort darauf haben die USA persönliche Sanktionen und ein Einreiseverbot gegen sie verhängt.
Auch Deutschland hat sich diesbezüglich nicht mit Ruhm bekleckert. Als der Bundeswehr- Oberst Klein im September 2009 in Kundus den Befehl gab, zwei gestohlene Tanklaster zu bombardieren, starben bis zu 142 Zivilisten. Dutzende afghanische Angehörige klagten erfolglos. Das Ermittlungsverfahren wurde schließlich eingestellt. Erst in der vergangenen Woche hat das Bundesverfassungsgericht als höchste juristische Instanz Deutschlands entschieden , dass den Hinterbliebenen keine Entschädigung gezahlt werden muss. Und Oberst Klein wurde inzwischen sogar zum General befördert.
Nur die Spitze des Eisbergs
Die Untersuchungen Australiens sind also tatsächlich ein Novum im Krieg in Afghanistan. Wir können aber davon ausgehen, dass diese neuesten Erkenntnisse nur die Spitze des Eisbergs sind. Es wird viele Jahre dauern, bis wir das wahre Ausmaß darüber kennen, welche Verbrechen im Namen des "Kriegs gegen den Terror" begangen worden sind. Und selbst dann werden die meisten Straftaten wahrscheinlich nicht ans Tageslicht kommen.
Sollten sich die Regierungen des Westens aber nicht endlich vehement gegen Kriegsverbrechen aussprechen, diese selbstkritisch aufarbeiten und Entschädigungen an die Hinterbliebenen zahlen, werden sie auch in Zukunft eine Angriffsfläche für autokratische Regierungen wie die Chinas bieten. Die Weltmacht China setzt lieber auf wirtschaftliche Ausbeutung als auf militärische Einsätze. "Hearts and Minds" lassen sich mit chinesischen Yuan weitaus besser für die Sache Pekings gewinnen, als mit Bomben und Folter. Will der Westen also auch weiterhin glaubwürdig bleiben und die Deutungshoheit darüber behalten, was richtig und falsch ist, muss er mit gutem Beispiel voran gehen.