Lange hat sie im Schatten ihres Co-Vorsitzenden Robert Habeck gestanden. Er - der Intellektuelle mit Charisma. Sie - die bodenständige Junior-Partnerin, die noch an ihrem Profil feilte. An der Parteibasis sehr beliebt, doch in bundesweiten Umfragen blieb Baerbock lange hinter ihrem Kollegen zurück. Längst hat sie aufgeholt und wird jetzt zur ersten Grünen-Kanzlerkandidatin.
Diese Nominierung ist beachtenswert und mutig. Ja, natürlich hat Baerbocks Geschlecht eine Rolle gespielt. Doch sie hat sich vor allem durchgesetzt, weil sie die personifizierte Agenda ihrer Partei ist. Und eine noch immer unterschätzte "Wahlkampfmaschine" der Grünen. Ebenso bemerkenswert wie die Person Baerbock ist die Geräuschlosigkeit dieser Nominierung: Während sich die Konservativen immer weiter selbst zerfleischen, zeigte die Öko-Partei, wie man sich einvernehmlich und kollegial einigen kann.
Kann die das?
Der Blick auf die Umfragen lässt die Grünen träumen: Ihre Werte sind fast dreimal so hoch, wie vor vier Jahren und nur wenige Prozentpunkte hinter Merkels Partei. In praktisch allen denkbaren Konstellationen nach der Bundestagswahl spielen die Grünen eine zentrale Rolle - sie haben die besten Chancen, Teil der nächsten Bundesregierung zu sein. Ob mit Annalena Baerbock sogar das bisher Undenkbare möglich wird und die Grünen das Kanzleramt erobern können?
Vor ihrer Nominierung gab es erhebliche Zweifel. Die Grünen-Politikerin hat eine beispiellose Partei-Karriere hingelegt, doch fehlt es ihr bisher an Regierungserfahrung. Nach den bisherigen Regeln des politischen Betriebs in Deutschland wäre das zu wenig, um nach den Sternen zu greifen. Doch die Art und das Tempo, wie sie ihren Weg bisher geht, machen deutlich, dass man mit ihr auch ganz oben rechnen muss.
Hilfreich dürfte der Zeitpunkt dieser Nominierung sein: Während Millionen Wähler desillusioniert und enttäuscht vom schlechten Management der Regierenden in der Corona-Krise sind, scheint Baerbocks Unerfahrenheit plötzlich zweitrangig. Bei der Bekanntgabe ihrer Nominierung betonte sie, sie wolle ein gerechtes und familienfreundliches Deutschland. "Ich stehe für Erneuerung. Für den Status quo stehen die anderen" - der Neuanfang ist also Programm.
Die Schwäche der Konkurrenten
Wie weit die Grüne Kanzlerkandidatin am Ende kommt, hängt aber nicht nur von ihrer eigenen Stärke ab, sondern auch von der Schwäche der Konkurrenten. Mit der Nominierung hat sie erst die erste Hürde genommen. Gegen den noch unklaren Unions-Kandidaten muss sie sich erst noch durchsetzen. Momentan spielt die Zeit für sie: Je länger die Union im Selbstzerstörungsmodus bleibt, desto länger darf die 40-Jährige träumen.
Unbestritten ist, dass Baerbock die richtige Frau für den Wahlkampf ist: schlagfertig, sympathisch, sachlich und solide. Dass sie einen ausgeprägten Machtinstinkt hat, hat sie mit dem erfolgreichen Griff nach der Kanzlerkandidatur bewiesen. Politisch steht die studierte Völkerrechtlerin für Themen der Zukunft: Klima, Familie, Europa. Seit 2013 im Bundestag, hat sie sich auch ein respektables außenpolitisches Profil erarbeitet.
Ein neuer Politikstil und Politiker-Typus
Und noch ein Punkt spricht für Baerbocks Chancen: Sie hat naturgemäß leichteren Zugang zu den jüngeren Wählerinnen und Wählern. Mit ihrem persönlichen Modell - Mutter, Macht, Karriere - lebt sie vor, was sie predigt und taugt als Vorbild. Vielen Frauen fällt es leichter, sich mit der lächelnden Mutter zweier Kinder zu identifizieren, als mit ihren männlichen Konkurrenten. Sie selbst hat in diesem Kontext bereits unbescheiden auf die Obamas und Jacinda Ardern in Neuseeland verwiesen.
In Talkshows und Bundestagsdebatten zeigt Baerbock beeindruckende Nervenstärke, sie agiert furchtlos und unerschrocken. Und darin liegt auch der Charme ihrer Kandidatur: Sie könnte die Politik auch jenseits von Ämtern beeinflussen, weil sie einen neuen, frischen Politikstil und Politiker-Typus verkörpert. Ihre Kandidatur ist damit zugleich das Signal für einen überfälligen Generationswechsel.