Die Frustration ist groß bei den bisherigen Bewerbern um einen EU-Beitritt auf dem westlichen Balkan. Seit Jahrzehnten wird ihnen eine Mitgliedschaft versprochen, doch es geht aus vielerlei Gründen nicht voran. Da ziehen plötzlich die Ukraine und in ihrem Windschatten die Republik Moldau an den West-Balkan-Staaten vorbei. In Rekordzeit werden sie Kandidaten.
Der Frust ist nachvollziehbar, aber er fußt auf falschen Annahmen. Bei der EU-Erweiterung geht es in Zukunft um Geopolitik, um die Abwehr der imperialen Gelüste des russischen Präsidenten. Es geht nicht mehr - wie beim Westbalkan und zu großen Teilen auch beim Sonderfall Türkei - um eine politische und wirtschaftliche Angleichung der beitretenden Gesellschaften an die Standards der EU.
Ein notwendiges Wagnis
Mit der historischen Entscheidung, den riesigen, im Krieg befindlichen Flächenstaat Ukraine aufnehmen zu wollen, hat die Europäische Union die Weichen völlig neu gestellt. Das sei ein politisches Wagnis, meint der erfahrene luxemburgische Außenminister Jean Asselborn. Ein notwendiges Wagnis. Diejenigen, die etwas weniger wagen wollen, wie Frankreich, die Niederlande, Portugal und auch Deutschland trösten sich damit, dass der Schritt heute noch nichts kostet und ein tatsächlicher EU-Beitritt der Ukraine nach Jahren der Verhandlungen noch schemenhaft in der Zukunft liegt.
Der historische Schritt wird sich mittelfristig auch positiv für die Beitrittskandidaten auf dem Balkan auswirken. Denn es geht der EU jetzt vorrangig darum, russischen und chinesischen Einfluss in der Region zurückzudrängen. Die Aufnahmekriterien, die bislang streng beachtet werden mussten, werden daher etwas weicher werden.
Die ärgerliche und überflüssige Blockadehaltung Bulgariens muss schnell überwunden werden. Es kann nicht sein, dass ein EU-Land seine innenpolitischen Schwierigkeiten mit einer Geiselnahme des Beitrittsprozesses auslebt. Aber nicht nur Bulgarien, sondern auch Griechenland und Frankreich legten an ihnen genehmer Stelle im Verfahren in der Vergangenheit ein Veto ein.
Der Balkan muss seine Probleme selbst lösen
Allerdings liegen die Probleme der bisherigen Beitrittsverfahren für den Westbalkan höchstens zu einem Teil bei der EU. Die wirklich großen Hürden müssen die Beitrittsbewerber selbst aus dem Weg räumen: Stabile Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Konfliktlösung mit den Nachbarn kann ihnen die EU nicht verordnen. Das müssen die Länder selber schaffen. Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Serbien und Albanien haben da noch einige harte Nüsse zu knacken.
Es wäre gut gewesen, wenn sich 26 EU-Staaten gegen Bulgarien durchgesetzt und Beitrittsverhandlungen mit Nord-Mazedonien und Albanien aufgenommen hätten. Das Einstimmigkeitsprinzip hat das leider verhindert. Der Gipfel in Brüssel war in diesem Sinne wieder einmal eine verpasste Chance, den Bemühungen um den Westbalkan neuen Schwung zu geben. Er sendet aber sehr wohl ein starkes Signal in Richtung Russland: Die EU ist trotz aller Schwierigkeiten bereit, über ihren Schatten zu springen und die Ukraine aufzunehmen. Und Moskau kann das nicht verhindern.
Reformdruck auch auf die EU
Klar ist, dass dieser mutige Schritt, die EU verändern wird. Sie muss sich aufnahmefähiger machen. Sie muss ihre Entscheidungsprozesse verschlanken. Ansonsten kann sie keine neuen Mitglieder integrieren. Diese Erkenntnis ist nicht neu, nur passiert ist in den zurückliegenden Jahren wenig. In den EU-Staaten hat durch Finanz-, Schulden- und Flüchtlingskrise die Zahl der euroskeptischen Populisten in den vergangenen 15 Jahren zugenommen. Auch dadurch hat die Aufnahmefähigkeit stark abgenommen. Ob der geopolitische Schock durch den Angriff Russlands auf die Ukraine diesen Trend wird umkehren helfen oder sogar noch verstärken wird, ist eine offene Frage.
Die EU muss es diesmal besser machen als im Falle der Türkei. Ebenfalls ein riesiges potenzielles EU-Land, das 2005 aus zum Teil geostrategischen Gründen aufgenommen werden sollte. Die Türkei ist im Laufe des zähen Beitrittsprozess in das autokratische Lager abgedriftet und hat keine Chance, in absehbarer Zeit den Sprung in die EU zu schaffen. Das darf sich mit der Ukraine nicht wiederholen.