1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Vorschneller Abzug aus Afghanistan

Barbara Wesel Kommentarbild App *PROVISORISCH*
Barbara Wesel
16. Dezember 2020

Die Serie von Mordanschlägen in Afghanistan reißt nicht ab und die Friedensgespräche in Doha stocken. Washington aber plant den baldigen Truppenabzug. Die NATO würde das Land ins Chaos stürzen, meint Barbara Wesel.

https://p.dw.com/p/3mlsZ
US-Soldaten in Afghanistan
Bild: Brian Harris/Planet Pix/ZUMA/picture alliance

In der vorigen Woche wurde die Journalistin Malala Maiwand in der afghanischen Stadt Jalalabad ermordet. Im November starb der Journalist Elyas Daye durch eine Autobombe. Auf der Mordliste der Taliban stehen auch Lehrer, Regierungsangestellte oder medizinisches Personal. Darüber hinaus reißt die Serie von Anschlägen auf den Straßen und Märkten des Landes nicht ab, die immer wieder Dutzende ziviler Opfer fordern. Soll dies also der richtige Zeitpunkt sein, den "endlosen Krieg" in Afghanistan zu beenden, wie die US-Regierung erklärt hat?

Im Ergebnis ein Blutbad

Beobachter erwarten, dass Afghanistan ohne eine westliche Militärpräsenz in kürzester Zeit im Chaos versinken und die Taliban überall die Kontrolle übernehmen würden. Und dann ist die Bahn frei, um Mädchen auf dem Schulweg umzubringen oder Frauen in öffentlichen Ämtern und andere, die von den Taliban und ihren Kumpanen als zu westlich oder nicht strenggläubig genug eingestuft werden.

Auch die Zukunft der schiitischen Hasara-Minderheit steht auf dem Spiel: Im Oktober starben 30 Menschen bei einem brutalen Anschlag vor einer ihrer Schulen westlich vor Kabul. Zu der Tat hat sich eine IS-Gruppe bekannt und sie zeigt damit, was zu erwarten ist. Zwei der Talibanführer übrigens, die für ein früheres Massaker an Hasara verantwortlich gemacht werden, sitzen bei den sogenannten Friedensgesprächen in Doha mit am Tisch.

Und selbst wenn dort irgendwann ein Abkommen unterschrieben wird - wenn es nicht ein Mindestmaß an militärischer Aufsicht im Land gibt, wird es das Papier nicht wert sein, auf dem es steht. Selbst wenn vielleicht gemäßigte Taliban-Führer bereit sind, von permanentem Mord und Totschlag als Mittel der Politik abzusehen, ist die Gruppierung so diffus, unkontrollierbar und von Hardlinern unterwandert, dass ein Friedensvertrag als Farce erscheint.

Deutschland gegen den vorschnellen Abzug

Die Bundesregierung sieht die Gefahren und wendet sich gegen einen solchen vorschnellen Abzug. Aber der Einsatz deutscher und anderer Truppen in Afghanistan hängt von der US-Präsenz ab: Als Mindestzahl gelten 2500 US-Soldaten mit ihren militärischen Fähigkeiten, um den Schutz der NATO-Partner im Land zu gewährleisten.

Barbara Wesel Kommentarbild App *PROVISORISCH*
DW-Brüssel-Korrespondentin Barbara Wesel

Nach den jüngsten Plänen in Washington dürfte man diesen Punkt bald erreichen. Und drückt Präsident Trump aufs Tempo, müssen alle anderen notgedrungen auch nach Hause gehen, weil es ohne den Schutz der US-Soldaten für sie zu gefährlich wird.

Offiziell will die NATO erst Mitte Februar über die Zukunft der Mission entscheiden. Aber dann wäre es eigentlich schon zu spät, denn ein so großer Truppenabzug ist ein enormer logistischer Aufwand. Wenn die deutsche und andere Regierungen hier noch einen partiellen Kurswechsel anstreben, müssen sie so bald wie möglich auf Joe Biden als nächsten US-Präsidenten einwirken. Auch er will den endlosen Krieg in Afghanistan beenden, aber angesichts der zu erwartenden Folgen, wäre er vielleicht zu einem Kompromiss bereit.

Flucht vor der Verantwortung

Nach bald 20 Jahren wäre es ein gewaltiger strategischer Fehler, jetzt Hals über Kopf das Land zu überlassen. Man würde einen "failed state", einen gescheiterten Staat, schaffen, der die Region mit allen Nachbarländern in Gefahr bringen und als Basislager für eine neue Generation internationaler Terroristen dienen würde. Und war es nicht einmal Ziel der Mission, gerade das zu verhindern und aus Afghanistan einen funktionierenden Staat zu machen?

Aber es geht um mehr: Den Preis für eine solche Flucht des Westens aus einem Einsatz, wo von Anfang an der politische Wille fehlte, den Aufbau des Landes planvoll und konsequent zu betreiben, würden Frauen, tapfere Bürgermeister, Minderheiten und die kleine, aber engagierte Zivilgesellschaft in Afghanistan zahlen.

Für die NATO würde es bedeuten, dass etwa 3500 ihrer Soldaten in einem Einsatz gestorben wären, der von der Politik beendet wird, ohne ein einziges seiner Ziele erreicht zu haben. Diese drohende Schande ist es Wert - abgesehen von dem Prestigeverlust für die NATO und den Westen - noch einen letzten Versuch zu machen, um aus den Trümmern der Mission eine Zukunft für Afghanistan zu retten und das gequälte Land vor dem Schlimmsten zu bewahren.