Memorial-Ausstellung über russische GULAGs
29. Dezember 2021"Ich bitte um Erlaubnis, ein Telegramm abzuschicken. Im Moment meiner Festnahme befanden sich zwei Kinder, zwei und vier Jahre alt, in meiner Wohnung!" Die Zeilen des Antrags sind in einer schönen, geschwungenen Handschrift geschrieben. Die Antwort des Gefängnisdirektors ist kurz und knapp: "Abgelehnt!"
Dieses Telegramm ist nur eines von über hunderttausend Dokumenten, die von der russischen Stiftung und Menschrechtsorganisation Memorial International gesammelt wurden. Etwa zweihundert – darunter geflickte Kleider, selbstgebastelte Dinge des Alltags, wie eine Nagelfeile aus einer Keramikscherbe oder eine Nadel aus einer Fischgräte, zum Teil nie verschickte Briefe und Zeichnungen – hat die Stiftung für die Ausstellung "Material. Das weibliches Gedächtnis des GULAGs" im Kellergeschoß der Moskauer Memorial-Zentrale zusammengetragen.
Seit 33 Jahren setzt sich Russlands älteste Menschenrechtsorganisation, dessen Mitbegründer der Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow war, für die Erinnerung an die Opfer der Stalin-Zeit ein und versucht diese Zeit der Unterdrückung aufzuarbeiten: Über 12 Millionen Menschen wurden Ende der 1920er-Jahre bis zu Stalins Tod 1953 als "Volksfeinde" verfolgt. Oft reichten eine "falsche" Nationalität, ein westlich klingender Name oder ein höherer Bildungsstand, um verhaftet oder hingerichtet zu werden oder um für viele Jahre, sogar Jahrzehnte im Lager, dem sogenannten GULAG, zu verschwinden.
"Das Gedächtnis des GULAGS ist weiblich"
Viele der Opfer waren Frauen. "Nur wenige waren tatsächlich gegen die Sowjetmacht", sagt Irina Scherbakowa, Historikerin und Kuratorin der Ausstellung. "Mehrheitlich waren es ganz normale Städterinnen, wie Sie und ich - Lehrerinnen, Beamtinnen, Hausfrauen. Oft bestand die einzige Schuld der Frauen darin, Ehefrau, Tochter oder Schwester eines 'Volksfeinds' zu sein", so Scherbakowa weiter, während sie das DW-Team durch die Ausstellung führt.
"So wurden während des 'Großen Terrors' 1937-1938 ('Der Große Terror', auch 'Große Säuberung' genannt, war eine Verfolgungskampagne in der ehemaligen Sowjetunion gegen mutmaßliche Gegner Stalins, Anmerk. d. Red.) allein in Moskau über 20.000 'Ehefrauen von Feinden' festgenommen und zu acht und mehr Jahren Lagerhaft verurteilt. Über 30.000 Kinder kamen in Heime und sahen ihre Eltern oft nie wieder."
Die Schicksale der GULAG-Kinder seien ein Kapitel für sich, so Scherbakowa weiter. "Die Kindersterblichkeit in den Heimen war enorm, und die psychischen Traumata unheilbar."
Die Ausstellung heiße "Das weibliche Gedächtnis des GULAGs", da es vor allem Frauen gewesen seien, "die die Erinnerungsstücke an die Unterdrückung sorgfältig aufgehoben haben und an uns für die weitere Aufbewahrung weitergaben", so die Historikerin weiter.
Russland, was ist mit Dir?
1988 gehörte Scherbakowa zu den Gründungsmitgliedern der Stiftung Memorial: "Keiner von uns hat damals gedacht, dass die Geschichte unseres Landes, unserer Gesellschaft eine solche Wendung nehmen würde." Die Gründe für die heutige Situation einer "fast absoluten Unfreiheit" sieht Scherbakowa darin, dass die Verbrechen der Stalin-Zeit nie aufgearbeitet wurden.
"Bis heute ist unsere Gesellschaft von Stalin-Terror geprägt: Angst vor der Obrigkeit, Doppelmoral nach dem Prinzip 'das Eine denken, etwas anderes sagen, etwas Drittes tun', Verkapselung in einer privaten 'Schutzhülle', Desinteresse an allem Gesellschaftlichen – all das ist das Erbe des Terrors", sagt die Historikerin.
Wiederholt warf die russische Justiz Memorial International Verstöße gegen ein russisches Gesetz von 2012 vor, das es dem Land erlaube, Organisationen, die Zahlungen aus dem Auslad erhalten, als "ausländische Agenten" einzustufen. Memorial ist seit 2016 in Russland ein als sogenannter "ausländischer Agent" registriert, weil die Organisation teilweise aus dem Ausland finanziert wird. Nun entschied ein Moskauer Gericht über das Verbot der Menschenrechtsorganisation: Anders als das Gesetz es vorsehe, habe Memorial einige seiner Publikationen nicht mit einer speziellen Kennzeichnung versehen, begründete die zuständigen Richterin Alla Nasarowa das Urteil vom 28. Dezember 2021.
Für Irina Scherbakowa kam die Entscheidung nicht überraschend: "Wir sind die Bewahrer der Erinnerung an jenen Teil der Geschichte, die der russische Staat am liebsten vergessen will, da er nur an seine Errungenschaften und Siege erinnern möchte." Ihre Arbeit will Scherbakowa in jedem Fall fortsetzen. Wie – ist noch unklar.