"Menschenrechte immer neu erkämpfen"
7. Dezember 2016DW: Frau Follmar-Otto, Sie haben die Menschenrechtssituation in Deutschland untersucht, und das in einem ganz besonderen Zeitraum, nämlich als hunderttausende Menschen neu ins Land kamen. Wie bewerten Sie die Lage in Deutschland?
Petra Follmar-Otto: Wir haben gesehen, dass Deutschland mit der Entscheidung, die zu uns kommenden Menschen aufzunehmen, seinen menschenrechtlichen Verpflichtungen nachgekommen ist in einer Zeit, als das EU-Asylsystem zusammengebrochen war. Es gibt aber auch Schatten, zum Beispiel die Zunahme von rassistischen Übergriffen oder Defizite in der Unterbringung und Versorgung von geflüchteten Menschen.
Sie sehen vieles kritisch, was der Gesetzgeber unternommen hat, damit die Zuwanderungszahlen zurückgehen, zum Beispiel die teilweise Aussetzung des Familiennachzugs oder das Flüchtlingsabkommen zwischen EU und Türkei. Aber sind diese Maßnahmen nicht notwendig, damit die Bevölkerung die Aufnahme der Schutzsuchenden akzeptiert?
Es ist notwendig in einer globalisierten, konfliktträchtigen Welt, dass sich Europa in neuer Weise auf diese Situation einstellt. Wir glauben, dass es dazu eines umfassenden Ansatzes bedarf und dass der sich im Rahmen der menschenrechtlichen Verpflichtungen bewegen muss. Dazu zählt der Rechtsanspruch jedes einzelnen, dass sein Schutzbegehren geprüft wird. Das ist der Grund, warum wir Maßnahmen wie das Abkommen mit der Türkei oder mögliche künftige Abkommen mit nordafrikanischen Staaten sehr, sehr kritisch sehen. Denn eine Politik wird für diese globale Situation keine Lösung haben, solange sie nur auf Abschottung ausgerichtet ist und nicht gleichzeitig mit einem umfassenden Ansatz Schutzbedürftigen Zuflucht gewährt.
Würde man alles tun, was Sie empfehlen, würden die Flüchtlingszahlen wieder hochschnellen und der Widerstand dagegen wachsen. Würde man dann nicht das Kind mit dem Bade ausschütten?
Ich glaube, die Reaktion der Bevölkerung - und das große ehrenamtliche Engagement hält ja an - zeigt, dass wir bereit sind und dass wir diese Menschen auch aufnehmen können.
Was heißt "wir"? Es gibt ja auf der anderen Seite auch die vielen Hass-Mails und die Fremdenfeindlichkeit, die sich zum Teil sogar in Gewalt äußert.
Das ist richtig. Aber ich glaube, der kann man nicht begegnen, indem man ihr nachgibt. Das würde bedeuten, den Grundkonsens der Menschenrechte, den wir in Deutschland haben, aufzugeben, um solche Hetze und Stimmungsmache zuzulassen. Das ist für die Politik jetzt ein entscheidender Punkt: Wie ist die Reaktion auf die zunehmenden rassistischen, menschenrechtswidrigen Positionen im öffentlichen Raum? Ich glaube, die Reaktion muss sein, diese klar zurückzuweisen und ihnen nicht in Maßnahmen oder in der Rhetorik hinterherzulaufen.
Gehen Sie bei Ihrer Kritik so weit zu sagen, die Bundesregierung verhalte sich menschenrechtswidrig?
Wir sehen einzelne Punkte, die wir für menschenrechtlich sehr problematisch halten. Ein Beispiel ist die Aussetzung des Familiennachzugs, insbesondere, wenn es um unbegleitete minderjährige Flüchtlinge geht. Wir glauben, dass die Aussetzung nicht mit den Verpflichtungen Deutschlands gemäß der Kinderrechtskonvention übereinstimmt.
Ein anderes Thema in ihrem Bericht ist, dass manche Behinderte nicht wählen dürfen. Das soll rund 85.000 Menschen betreffen. Aus welchen Gründen wurde ihnen das Wahlrecht entzogen?
Das ist eine Regelung im Wahlgesetz, die vorsieht, dass Menschen, die in allen ihren Angelegenheiten unter rechtlicher Betreuung stehen, nicht das Recht haben zu wählen, obwohl sie erwachsene Staatsangehörige sind. Das betrifft Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung, geistiger Behinderung oder Menschen, bei denen Schizophrenie diagnostiziert wurde.
Aber sind das nicht gute Gründe? Muss man nicht einem Menschen, von dem man nicht erwarten kann, dass er eine rationale Entscheidung trifft, dieses Recht nehmen?
Bei der Ausübung des Wahlrechts ist kein Mensch in Deutschland verpflichtet, rationale Entscheidungen zu treffen. Es gibt Protestwähler, es gibt Wähler von Spaßparteien. Von daher denken wir, dass es unter dem Gesichtspunkt der UN-Behindertenrechtskonvention ein diskriminierendes Vorgehen ist, Menschen mit Behinderung eine "vernünftige" Entscheidung von vornherein abzusprechen und ihnen damit das Wahlrecht abzuerkennen.
Welche Mittel haben Sie in der Hand, um die Achtung der Menschenrechte durchzusetzen?
Dieser Bericht ist eines der Mittel, die wir haben. Das Deutsche Institut für Menschenrechte wurde vergangenes Jahr auf eine gesetzliche Grundlage gestellt und in das Gesetz hat der Bundestag hineingeschrieben, dass wir einen jährlichen Bericht zur Menschenrechtssituation vorlegen sollen. Insofern erwarten wir, dass der Bundestag den Bericht jetzt aufgreifen und diskutieren wird. Er kann ihn auch als Grundlage von Politik in Zukunft nutzen.
Wir erleben eine Welle des Nationalismus und der Fremdenfeindlichkeit. Wird die Menschenrechtslage schwieriger?
Es ist sicherlich so, dass der gesellschaftliche Grundkonsens der Menschenrechte immer stärker und immer wieder mit guten Argumenten verteidigt werden muss. Das betrifft ganz Europa. Wir müssen immer wieder deutlich machen, was für eine Errungenschaft es ist, dass wir die Menschenrechte haben, dass wir rechtsstaatliche Prinzipien haben, dass wir eine unabhängige Justiz haben. Die Aufrechterhaltung der rechtsstaatlichen und demokratischen Strukturen ist sicher eine Aufgabe für die nächsten Jahre.
Das heißt, die Menschenrechte erhalten sich nicht von selbst?
Nein. Das zeigt sich auch aus der Geschichte der Menschenrechte. Sie müssen erkämpft werden, damit sie überhaupt auf einem Papier stehen, und dann müssen sie immer wieder erkämpft werden.
Dr. iur. Petra Follmar-Otto ist Leiterin der Abteilung Menschenrechtspolitik Inland/Europa am Deutschen Institut für Menschenrechte in Berlin.
Das Gespräch führte Christoph Hasselbach.