Folter in der Ostukraine
21. Juli 2016"Es war staubig und dunkel in der Zelle, und manchmal so heiß, dass ich mich an die Tür legen musste, um Luft zu schnappen. Ich hatte mehrere offene eiternde Wunden, aber es wurde kein Arzt gerufen." Das sind Worte von Anatolij Poljakow, den pro-russische Separatisten in Luhansk illegal inhaftiert haben.
Artjom, der seinen echten Namen nicht nennen möchte, berichtet, ihn hätten ukrainische Sicherheitskräfte in Mariupol und Charkiw festgehalten: "Die Zelle war etwa acht mal acht Meter groß. Das Fenster war vergittert und mit einer Plastikfolie bedeckt, damit wir nicht auf die Straße schauen konnten. In der Zelle waren elf Gefangene, als man mich dorthin brachte. Wir bekamen dreimal am Tag zwei Löffel Brei und ein kleines Stück Brot mit Tee. Samstags und sonntags gab es zum Frühstück nur Tee."
Die Aussagen von Anatolij und Artjom sind in einem gemeinsamen Bericht von Amnesty International und Human Rights Watch zu lesen - mit dem Titel "You Don't Exist. Arbitrary Detentions, Enforced Disappearances, and Torture in Eastern Ukraine", der gerade in Kiew vorgestellt wurde. Darin werden 18 Fälle illegaler Inhaftierung von Zivilisten beschrieben. In neun Fällen geht es um Freiheitsberaubung durch pro-russische Separatisten. Doch genauso viele illegale Inhaftierungen werden dem ukrainischen Militär vorgeworfen. Jedes Mal seien die Opfer beschuldigt worden, mit dem Feind zusammengearbeitet oder zumindest mit ihm sympathisiert zu haben.
"Nur die Spitze des Eisbergs"
Diese 18 Fälle seien aber "nur die Spitze des Eisbergs", warnen die Menschenrechtler. Die tatsächliche Zahl illegal festgehaltener Zivilisten könne heute niemand genau feststellen. "Zum einen ist die Haft geheim, und zum anderen ist es schwierig, mit Opfern zu sprechen. Die Menschen befürchten, wieder eingesperrt zu werden oder dass ihre Familien Probleme bekommen", sagte der stellvertretende Direktor für die Region Europa und Zentralasien bei Amnesty International, Denis Krivosheev, im DW-Gespräch.
Vertretern von Amnesty International und Human Rights Watch gelang es aber, 40 Gespräche zu führen, darunter mit Opfern, ihren Angehörigen und Zeugen. Sie haben auch das Gebiet der Anti-Terror-Operation besucht, das von pro-russischen Separatisten kontrolliert wird. Die Recherchen dauerten sechs Monate lang. Die meisten Fälle beziehen sich auf das Jahr 2015 und die erste Hälfte des Jahres 2016.
Gibt es geheime Gefängnisse?
Den Menschenrechtlern zufolge werden inzwischen Zivilisten nicht mehr zufällig von separatistischen Gruppen festgenommen, sondern meist gezielt von den sogenannten "Ministerien für Staatssicherheit" der selbsternannten "Volksrepubliken" in der Ostukraine. Auf ukrainischer Seite würden nicht mehr die Freiwilligenbataillone, sondern vor allem der ukrainische Sicherheitsdienst SBU Zivilisten festsetzen. Der Bericht nennt drei Fälle, in denen Zivilisten zwischen sechs Wochen und 15 Monaten illegal inhaftiert waren. Die Menschenrechtler schließen nicht aus, dass es in Charkiw, Kramatorsk, Mariupol und Isjums "geheime SBU-Gefängnisse" gibt.
Tatjana Lokschina, die bei Human Rights Watch für die Region Europa und Zentralasien zuständig ist, sagte der DW, Anfang 2016 seien 16 Personen im SBU-Gefängnis in Charkiw inhaftiert gewesen. "Sie wurden dort illegal festgehalten. Mittel wurden für sie keine zugeteilt. Offiziell gab es diese Leute gar nicht", betonte sie und fügte hinzu: "Was die Vermutung bezüglich geheimer SBU-Gefängnisse angeht, so stützen wir uns auf Aussagen mehrerer Personen, die wir unabhängig voneinander befragt haben. Sie berichteten auf sehr ähnliche Weise, wie sie festgehalten wurden, wie die Zellen aussahen und wer dort einsaß. Sie nannten auch Namen anderer Häftlinge. Diese Informationen stimmten überein", so Lokschina. Ihr zufolge bestreitet der SBU die Existenz inoffizieller Hafteinrichtungen. Er habe aber den Menschenrechtlern versichert, entsprechenden Informationen nachzugehen.
Menschenrechtler fordern Untersuchungen
Amnesty International und Human Rights Watch fordern, illegale und geheime Inhaftierungen sowie die Misshandlung von Zivilisten zu stoppen. Die bekannt gewordenen Fälle von Menschenrechtsverletzungen müssten untersucht und die Verantwortlichen bestraft werden. Die gesammelten Informationen wollen die Menschenrechtler internationalen Organisationen zur Verfügung stellen, darunter den Vereinten Nationen, aber auch der ukrainischen Regierung und den Anführern der selbsternannten "Volksrepubliken Donezk und Luhansk".
Die Menschenrechtler wollen ihren Bericht auch Russland vorlegen. "In dem Maße, in dem von russischer Seite Einfluss auf die sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk ausgeübt wird, ist die russische Seite auch verpflichtet, Maßnahmen zu ergreifen. Folter und Freiheitsberaubung sind Verbrechen, die untersucht werden müssen", fordert Denis Krivosheev von Amnesty International.