Menschliches Gehirn im Labor gezüchtet
20. August 2015Das Labor-Gehirn besteht aus menschlichen Nervenzellen, die miteinander in Kontakt stehen, und Gliazellen, die sie mit Nährstoffen versorgen. "Die wichtigsten Hirnregionen sind vorhanden", verkündete kürzlich der US-Forscher Rene Anand von der Ohio State University auf einer Tagung in Florida. Dabei ist das an sich gar nichts Ungewöhnliches
Um ein Gehirn in einem Glasgefäß wachsen zu lassen, brauchen Forscher nur einige menschliche Hautzellen. Durch so genannte Reprogrammierung verjüngen sie sie zu vielseitigen Stammzellen (IPS-Zellen). Diese können sie anschließend in verschiedene Zelltypen verwandeln.
Seit 2007 setzen hunderte Stammzellenlabors weltweit diese Technik ein. Der Japaner Shinya Yamanaka von der Universität Kyoto erhielt dafür 2012 den Nobelpreis für Medizin. Aus reprogrammierten Zellen Nervenzellen zu züchten, ist heute eine Standardmethode. Allerdings wachsen diese Zellen in dünnen Schichten als eine Art Rasen, der von einer Nährflüssigkeit bedeckt ist.
Gehirne im Bioreaktor
Im Jahr 2013 gelang es Wiener Forschern erstmals, die Stammzellen so zu behandeln, dass sie sich zu einem gehirnartigen Gewebe zusammenschlossen. Der Leiter der Arbeitsgruppe vom Institut für Molekulare Biotechnologie in Wien ist der aus Bayern stammende Molekularbiologe Jürgen Knoblich. Mit seiner Mitarbeiterin Madeline Lancaster hatte er Nervenwachstumsfaktoren auf die Zellen gegeben und ein spezielles Glasgefäß mit einem Rührer entwickelt, einen Bioreaktor. "Ansonsten lassen wir die Zellen einfach in Ruhe", erklärt Jürgen Knoblich: "Wenn sie sich wohlfühlen, organisieren sie sich von selbst."
Nachdem die Wiener Wissenschaftler ihre Methode in der Zeitschrift "Nature" vorgestellt hatten, meldeten sich Dutzende Kollegen, die es ihnen gleichtun wollten. Jürgen Knoblich schätzt, dass heute über hundert kleine Menschengehirne in Labors überall auf der Welt heranwachsen.
Bei Erbsengröße ist Schluss
Um einen milchig-weißen Gewebeklumpen als Gehirn bezeichnen zu können, muss er aus verschiedenen Zelltypen bestehen. Am wichtigsten sind die Nervenzellen. Sie müssen miteinander in Kontakt stehen und Signale austauschen. Was dann entsteht, entspricht dem sich entwickelnden Gehirn eines Embryos.
Allerdings hört das Wachstum irgendwann auf, denn die Blutversorgung fehlt. Die Zellen im Innern des Mini-Gehirns erhalten nicht mehr genug Nährstoffe und sterben ab. Deshalb werden die im Labor gezüchteten Gehirne bislang nicht größer als eine Erbse.
Von den Fähigkeiten eines Gehirns kann bei den Zellklumpen keine Rede sein: Es fehlt die Wahrnehmung. Es kommen keine Informationen von außen in das Gewebe herein, und es findet keinerlei Informationsverarbeitung statt. Das Gehirn bleibt dumm. Jürgen Knoblich spricht deshalb auch nicht von einem Mini-Gehirn, sondern von einem gehirnartigen Organoid.
Für Forschung und Pharmazie
Denken sollen die Gehirn-Organoide gar nicht. Sie könnten aber in der Forschung und in der pharmazeutischen Industrie wertvolle Dienste leisten. In Zukunft könnten Mediziner Nervenzellen aus den Organoiden entnehmen, um damit schwere Nervenkrankheiten zu behandeln. Die Zellen sind möglicherweise besser zur Transplantation geeignet als Zellen, die in Zellkulturen wuchern. Schließlich haben sie sich bereits an ein Leben in einem dreidimensionalen Gewebeverbund angepasst.
Außerdem könnten die Organoide als Testsystem für neue Wirkstoffe dienen. Sie simulieren das Gehirn besser als Versuchstiere und Zellen in Kultur. Wirkungen und Nebenwirkungen auf das Gehirn lassen sich in den erbsengroßen Gewebeklumpen leicht erkennen.
Diese Marktchancen veranlassten den US-Forscher Rene Anand, auf eine wie sonst übliche Veröffentlichung seiner Ergebnisse zu verzichten. Er hat stattdessen eine Firma gegründet, um seine Gehirnzüchtungen zu vermarkten.