"Bürgerdialog" mit Merkel
1. Juni 2015Thiersheim braucht ein neues Feuerwehrauto, die kleine Gemeinde in Bayern aber hat kein Geld dafür. Nun würden alle ihr Geld zusammenkratzen, damit beim nächsten Hochwasser nicht alles wieder überschwemmt wird. Auch viele Alte würden etwas dazugeben, sie können sich das aber eigentlich nicht leisten. Denn das Leben für die Senioren sei nicht einfach. Die nächste Einkaufsmöglichkeit liege Kilometer entfernt, das Geld für ein Taxi dorthin aber sei knapp.
Es war kein Bild des Überflusses, das die sympathische junge Frau, Mitte 20, schick gekleidet, mit Leidenschaft und Empathie zeichnete. Angela Merkel hörte ganz genau zu, hielt ihr Mikrofon mit beiden Händen fest und gab zu, dass die strukturellen Nachteile auf dem Lande ein ganz großes Thema seien. Aus ihrer weiteren Antwort war zu schließen, dass sie weiß, wovon sie spricht - was vielleicht daran liegt, dass ihre Mutter in der strukturschwachen Uckermark lebt. Es gebe mobile Einkaufswagen, die die Dörfer abklapperten und die Leute mit Fleisch und Backwaren versorgten, erzählte die Kanzlerin ganz salopp. Weil sich ein regelmäßiger Busverkehr nicht mehr lohne, würden sogenannte Rufbusse angeboten, die nur bei Bedarf fahren. Doch solche Angebote sind im Westen, wie in Bayern, längst noch nicht so verbreitet wie im Osten der Republik, wo der demografische Wandel schon früher zu spüren war.
Ziel: Kein geschönter Dialog
Die Kanzlerin hatte zum Start des inzwischen zweiten Bürgerdialogs gesagt, dass sie wirklich hören möchte, was die Menschen bewegt. Deshalb würden nun die Diskussionsthemen nicht mehr vorgegeben, sagte sie den 60 Teilnehmern aus dem ganzen Land. Diese wurden auch nicht mehr - wie zuvor - delegiert, sondern zufällig, aber repräsentativ ausgewählt. Verantwortlich dafür ist das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin, das zusammen mit dem Meinungsforschungsinstitut Infratest seit 1984 jährlich tausende Bürger befragt. Nicht nur die junge Frau aus Bayern, auch die meisten der 60 Teilnehmer nutzten die Gelegenheit, ganz nah am Ohr der Kanzlerin zu sein und nahmen kein Blatt vor den Mund. 25 Kilometer sei der nächste Arzt von seinem Wohnort entfernt, berichtet ein Mann aus Hessen.
"Deutschland im Grunde schon ein Einwanderungsland"
Eigentlich sei sie ja heute hier, um die politischen Botschaften der Bürger zu hören und nicht, um Antworten zu geben. Daran erinnerte Merkel während der eineinhalbstündigen, im Fernsehen live übertragenen Veranstaltung. Aber Merkel ließ sich schwer auf diese Rolle der vorwiegend Zuhörenden beschränken. Immer wieder verteidigte sie ihre Politik oder klärte zumindest darüber auf.
So suche die Regierung ja Stellschrauben, um junge Ärzte aufs Land zu locken. Ein Ausweg könnte sein, dass Ärzte wieder von den Kommunen angestellt würden, also nicht die Kosten für eine eigene Praxis tragen müssten. Schließlich sei es gut, wenn es auch in ländlichen Gebieten ein paar deutsche Ärzte gebe, so Merkel, Sprachkenntnisse seien schließlich auch eine Frage des Vertrauens zwischen Arzt und Patienten. Auch in diesem Punkt zeigte Merkel, dass sie durchaus weiß, was im Land so los ist. Viele Ärzte kommen inzwischen vor allem aus Osteuropa zum Arbeiten in deutsche Krankenhäuser.
Asyl ohne Asylantrag?
Zum Thema Einwanderung positioniert sich Merkel ziemlich deutlich. Deutschland sei im Grunde schon ein Einwanderungsland. Sie referierte die Möglichkeiten, die es seit Jahren für Fachleute gibt, in Deutschland zu arbeiten. Hier müsse aber noch nachgebessert werden. Es müsse doch möglich sein, dass ein Chemielaborant aus Afrika, der hier dringend gebraucht werde, nach Deutschland kommen könne, ohne einen Asylantrag stellen zu müssen, so Merkel. Und für Menschen, die nach Deutschland kämen, müsse die Willkommenskultur besser werden - vielleicht müsse man mehr bei Patenschaften machte, regte sie an. "Meine Partei spricht, glaube ich, von einem Zuwanderungsland", sagte die Kanzlerin und CDU-Vorsitzende und nahm damit Stellung zu einer laufenden innerparteilichen Diskussion.
Zwei Mal spontaner Applaus
Gesundheit war eines von drei Themen, das die 60 Teilnehmer in einer Besprechungsrunde vor dem Treffen mit Merkel als Topthema identifiziert hatten. Bildung und soziale Sicherheit waren die anderen Themenbereiche. Auch hierzu nahmen die Bürger kein Blatt vor den Mund. Zwei Mal gab es während des Dialogs spontanen Applaus.
Das eine Mal, als eine Gymnasiallehrerin sich darüber beschwerte, dass viele Kinder abgehängt seien, weil sie nicht gefördert würden. Ein Grund seien überfüllte Klassen, die zu groß seien, um beispielsweise naturwissenschaftliche Experimente durchzuführen. Das Beispiel war gut ausgewählt, schließlich ist Merkel eine promovierte Physikerin.
Den anderen Applaus löste eine 51-jährige gebürtige Italienerin aus, die seit 17 Jahren in Deutschland lebt und hier studiert hat. Der Traum von Europa scheine fast am Ende zu sein. Aber Deutschland sei doch "das Herz von unserem Europa". Sie sehe das nicht so defätistisch, dass Europa am Ende sei, versuchte Merkel zu beruhigen. Sorgen aber mache auch sie sich. Sie weiche jedoch in Europa keiner Auseinandersetzung aus, wohl wissend, dass es letztlich immer auf einen Kompromiss hinauslaufe. Das sei in der Politik nicht anders als innerhalb von Familien, so Merkel.
Alltags-, nicht Luxusthemen
Viele der Themen der Bürger rühren aus ganz alltäglichen Erfahrungen her. Die Sorge um die Rente, hohe Aus- und Weiterbildungskosten, Zuzahlungen bei notwendigen ärztlichen Behandlungen, die steigende Zahl von Asylbewerbern und die dadurch entstehenden Kosten für die Kommunen, das als zu rigide empfunden Adoptionsrecht auch für gleichgeschlechtliche Partner - worauf Merkel übrigens keine Antwort gab -, Unterschiede zwischen Ost und West. Anders gesagt, es scheint in Deutschland viele Sorgen um die Sicherung des Lebensstandards zu geben. Über Fragen einer postmateriellen Gesellschaft wurde beim Bürgerdialog so gut wie gar nicht geredet. Einzig ein Mann aus Berlin wünschte sich ein weniger wachstumsorientiertes Wirtschaftssystem und berührte damit den wissenschaftlichen Hintergrund der Bürgerdialogs.
Neben dem Finden von Themen für anstehende Wahlkämpfe möchte die Bundesregierung nämlich eigentlich auch den Prozess weiter voranbringen, bei dem Wohlstand nicht nur am Bruttoinlandsprodukt festgemacht wird. Doch auch Merkel scheint von diesem Thema nicht mehr ganz so überzeugt. Ein bisschen Wachstum sei auch nicht schlecht, dann gebe es auch mehr Geld, merkte sie an. Die vielen zu meisternden Krisen der letzten Jahre und der demografische Wandel in Deutschland scheinen bewirkt zu haben, dass Luxusprobleme wie " Was-kommt-nach-dem-Wohlstand?" keine so große Rolle mehr spielen. Der erste Bürgerdialog war von den Medien in Deutschland noch als "Suche nach der Glücksformel" kritisiert worden.
Dass es ein intensives gemeinsames Nachdenken gebe, so lautete Merkels Fazit aus der Veranstaltung. Die öffentlichen Diskussionen werden im Land weitergehen - mit Bundesministern, in Vereinen, mit Kirchen, Sozial- und Wirtschaftsverbänden. 150 Bürgerdialoge sind geplant. Die Ergebnisse werden wissenschaftlich ausgewertet und sollen dann in Form eines Indikatorsystems für die Politik ein Wegweiser sein.