"Europa hat die Kraft"
23. September 2015EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker ist verstimmt über das Verhalten der Mitgliedsstaaten. Sie hatten ihm vorgeworfen, seine Kommission tue nicht genug in der Flüchtlingskrise. Außerdem konnten sich die Staaten am Dienstag nicht einstimmig auf die Verteilung von 120 000 Flüchtlingen einigen. "Ich hätte jetzt Lust, die Staaten zu kritisieren, dazu lasse ich mich aber nicht hinreißen", grummelte Juncker kurz vor Beginn des Krisengipfels der 28 EU-Staats- und Regierungschefs in Brüssel. Stattdessen veröffentlichte Junckers EU-Kommission weitere 40 Verfahren gegen 19 Mitgliedsstaaten, die die gemeinsamen EU-Asylgesetze nicht befolgen. 35 solcher Verfahren laufen bereits. Bisher hat die EU-Kommission solche "Vertragsverletzungsverfahren" geräuschlos ohne viel Tamtam eröffnet. An diesem Gipfeltag marschierten gleich vier EU-Kommissare auf, um die säumigen Mitgliedsstaaten, darunter auch Deutschland, an den Pranger zu stellen.
EU-Kommission macht Druck auf Mitgliedsstaaten
Der Kommissionspräsident erhöhte den Druck noch, indem er selbst zusammen mit dem EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz unmittelbar vor dem Gipfeltreffen eine Pressekonferenz abhielt und den Staatenlenkern erst einmal die Schau stahl. Ungewöhnliche Krisen erfordern wohl ungewöhnliche Maßnahnmen. Parlamentspräsident Schulz jedenfalls mahnte die nationalen Regierungen ihrer jeweiligen Bevölkerung reinen Wein einzuschenken. "Ich glaube, dass wir in einer Situation sind, in der es kein Ausweichen mehr gibt vor Dingen, die man aussprechen muss." Die Zahl der Flüchtlinge werde noch zunehmen, orakelte Schulz. Die Krise sei noch lange nicht vorbei. Die Kritik der Unterlegenen, also Tschechien, der Slowakei, Ungarn und Rumänien, an der Mehrheitsentscheidung zur Verteilung von Flüchtlingen wies EU-Kommissionpräsident Juncker strikt zurück. "Wir werden das in Freundschaft heute Nacht austragen, wobei ich total ausschließe, dass die gestrige Beschlussfassung wieder aufgemacht wird. Nein! Der Beschluss steht und er ist von allen zu respektieren." Der slowakische Ministerpräsident Robert Fico hatte eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof gegen den Mehrheitsbeschluss angekündigt.
Tusk: "Chaos beenden"
Zu Beginn des Sondergipfels zeigten sich die Staats- und Regierungschefs dann tief gespalten bis ratlos über den Kurs, der in der Flüchtlingskrise einzuschlagen sei. Der Ratspräsident Donald Tusk, der den Gipfel leitet, hatte versucht, in den letzten Wochen die Positionen anzunähern. "Das war vergeblich", gestand Tusk vor der Sitzung ein. "Wir müssen das Chaos der letzten Wochen durch einen konkreten gemeinsamen Plan ersetzen", mahnte Tusk. Die Flüchtlinge fühlten sich geradezu "eingeladen" von der derzeitigen uneinheitlichen Flüchtlingspolitik. Ein kleiner Seitenhieb von Tusk auf die offene Haltung der deutschen Bundeskanzlerin zur Aufnahme von Flüchtlingen.
Während sich die Regierungschefs in Brüssel berieten, kamen auch an diesem Mittwoch wieder Tausende Flüchtlinge in Griechenland, Kroatien, Ungarn, Österreich und Deutschland an. Die eilig erlassenen Grenzkontrollen an den Binnengrenzen bestehen weiter während sich die Staaten gegenseitig die Flüchtlinge zuschieben, was eigentlich den gemeinsamen Asylregeln widerspricht.
Orban: "Ich befolge nur das EU-Recht"
Der ungarische Ministerpräsident Victor Orban, der die Grenze seines Landes zu Serbien und zum EU-Mitgliedsland Kroatien mit Zäunen sichert, sagte in Brüssel, er halte sich lediglich an die Regeln des gemeinsamen Schengen-Raumes. Der Schengen-Vertrag sieht Reisefreiheit im Innern bei gleichzeitiger Sicherung der Außengrenzen vor. Orban, der Bundeskanzlerin Angela Merkel "moralischen Imperialismus" vorgeworfen hatte, stellte klar, dass auch weiterhin Flüchtlinge und Asylsuchende nach Ungarn einreisen könnten. "Die Grenzen sind nicht geschlossen. Die grüne Grenze wird abgeriegelt. Es gibt Übergangspunkte, wo jeder legal nach Ungarn einreisen kann", so Orban. In der Tat hat Ungarn im zweiten Quartal des Jahres nach Deutschland die zweithöchste Zahl an Asylanträgen verzeichnet. Da war der Grenzzaun zu Serbien allerdings noch nicht fertig.
Merkel: "Wir schaffen das"
Bundeskanzlerin Angela Merkel ging auf die Kritik aus Ungarn nicht ein, sondern versuchte sich als Motivationstrainerin. "Angesichts einer großen Herausforderung darf es doch jetzt nicht passieren, dass Europa sagt, wir werden mit der Sache nicht fertig. Das wäre ganz falsch. Deshalb sage ich immer wieder, wir schaffen das." Europa könne vernünftige Lösungen finden und müsse sich außenpolitisch aktiv auf die Beseitigung der Fluchtursachen konzentrieren, also die Krisen im Nahen und Mittleren Osten. "Ich glaube, Europa hat dazu die Kraft", so Merkel optimistisch.
Viele Regierungschefs fordern eine bessere Kontrolle der Außengrenzen, um die Zahl der Einreisen zu senken und ein geordnetes Asylverfahren zu gewährleisten. "Die dringlichste Frage, die wir heute Nacht beantworten müssen, lautet: Wire erlangen wir wieder Kontrolle über unsere äußeren Grenzen? Ohne diese Kontrolle hat es keinen Sinn über eine gemeinsame Asylpolitik überhaupt nachzudenken", sagte EU-Ratspräsident Donald Tusk. Die gemeinsame Kontrolle zum Beispiel der Seegrenze zwischen der Türkei und Griechenland würde aber einen enormen Aufwand bedeuten. Außerdem müssten die zerstrittenen Mitgliedsstaaten Souveränität an eine Art europäischen Grenzschutz abgeben.
Schwachstelle Griechenland
Die griechischen Regierungen, ob links oder konservativ, haben sich in den letzten Jahren wenig um geordnete Asylverfahren gekümmert, sondern die Migranten und Flüchtlinge einfach ziehen lassen. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban will dazu einen Vorschlag machen. "Wenn Griechenland seine eigenen Grenzen nicht schützen kann, dann sollten wir höflich fragen, weil Griechenland ja ein souveränes Land ist, ob die anderen Europäer die Grenzsicherung nicht übernehmen sollten." Ob der neue und alte Ministerpräsident Alexis Tsipras konkrete Vereinbarungen treffen wird, ist allerdings zweifelhaft, meinen EU-Diplomaten.
Mehr Geld für Flüchtlinge in der Türkei
Als minimales Ergebnis des Sondergipfels soll wenigstens Geld fließen. Das Flüchtlingshilfswerk und das Welternährungsprogramm der UNO bräuchten in den nächsten drei Monaten rund eine Milliarde Euro, um die Ernährung der Flüchtlinge in der Türkei, Libanon und Jordanien sicherzustellen, sagte der liberale Europa-Abgeordnete Guy Verhofstadt der Deutschen Welle. "Dieses Geld muss jetzt fließen, nachdem die Europäer jahrelang weggeschaut haben", kritisierte Verhofstadt. Die Vereinten Nationen hatten die Lebensmittelrationen in Flüchtlingslagern aus Geldmangel kürzen müssen. Das soll viele Syrer zur Flucht nach Europa bewegt haben. Bundeskanzlerin Merkel zeigte sich in dieser Frage einsichtig: "Hier haben wir alle miteinander, und ich schließe mich da auch ein, nicht gesehen, dass die internationalen Programme nicht ausreichend finanziert sind, dass Menschen hungern in den Flüchtlingslagern. Ich hoffe, dass hier ein Signal kommt, dass wir die Lücke, die es beim Welternährungsprogramm gibt, auffüllen werden."