Merkel im politischen Herbst
26. September 2018"Revolution!" und "Wie geht es nun weiter?" Ironie und gespannte Aufregung in Berlin am Tag danach. Einerseits geht der politische Alltag formal weiter: Kabinettssitzung im Kanzleramt. Ausschussarbeit im Bundestag. Andererseits…. Merkel ist nach dem Aus für Volker Kauder, ihren treuesten Getreuen in der Fraktion, eine andere.
Das zeigten ihre Worte, mehr noch, ihr Gesicht am Dienstagabend. "Das ist eine Stunde der Demokratie, da gibt es auch Niederlagen, da gibt es nichts zu beschönigen. Aber trotzdem möchte ich, dass die CDU/CSU-Bundestagsfraktion erfolgreich weiterarbeitet - deswegen werde ich Ralph Brinkhaus, wo immer mir das möglich ist, unterstützen." Es war der Auftritt einer Politikerin, die verloren hat.
Er bei ihr
Merkel selbst hatte am Mittwochmorgen einen kurzfristig anberaumten Termin. Der neue Unionsfraktionschef Brinkhaus war im Kanzleramt zu Gast. Der hatte zuvor bereits gesagt: "Wir haben anspruchsvolle Projekte vor uns,( …) dann sind wir morgen auch wieder dabei, das zu tun, was die Menschen von uns erwarten, nämlich an der Sache zu arbeiten."
Die Wahl von Brinkhaus war auf jeden Fall ein Lebenszeichen einer lange lethargisch anmutenden Fraktion. Das Signal, dass sie nicht jedem Wink von Merkel oder Seehofer weiter folgen wird. Aber es ist, wenn man Reden des 2009 erstmals in den Bundestag eingezogenen Abgeordneten Brinkhaus nachliest oder –hört und ihn ein wenig kennt, kein Putsch gegen Merkel. Putschisten in der Fraktion, das sind andere. "Er hat viele Abgeordnete damit gewonnen, dass er gesagt hat: Er steht zu Angela Merkel, und er will keinen Kurswechsel. Es geht um einen neuen Arbeitsstil", meinte Armin Laschet, NRW-Ministerpräsident und stellvertretender CDU-Vorsitzender, im ZDF.
Erhard-Union
Was zu Merkel passt: Die ganz überwiegend finanzpolitisch ausgerichteten Bundestagsreden von Brinkhaus sind betont europäisch. Er erinnert an die Verpflichtung der deutschen Seite zum Kompromiss. Und er ist ein klassischer Vertreter der sozialen Marktwirtschaft. Brinkhaus stehe für die "Ludwig-Erhard-Union", sagt einer, der ihn lange kennt. Aber er ist eben nicht nur Merkel-Mann.
Dabei ist die CDU traditionell keine Putschpartei. Deshalb ist das Ereignis vom Dienstagabend so bemerkenswert. Letztlich hat die Fraktion ein Signal ausgesandt: Ganz gleich, was eines Tages mit Merkel oder der Regierung passiert – die Fraktion ist sprech- und handlungsfähig.
Gefährliche Erinnerung
Für Merkel, die im Dezember 1999 den letzten Putsch in der CDU anführte, den ewigen Parteichef Helmut Kohl aus dem Amt drängte und knapp fünf Monate später selbst den Vorsitz übernahm, ist das eine neue Erfahrung. Und eben gefährliche Erinnerung. "Die Partei", so schrieb Merkel vor 19 Jahren, müsse nun "laufen lernen, sich zutrauen, in Zukunft auch ohne (...) Helmut Kohl (...) den Kampf mit dem politischen Gegner aufnehmen".
Die Unionsfraktion lernt gerade dieses Laufen. Plötzlich. Endlich. Politische Gegner sagen, das Aus von Kauder sei ein Misstrauensvotum gegen Merkel. Ob es tatsächlich zu einem solchen werden wird, das werden die nächsten Tage zeigen. Aber es ist auf jeden Fall ein Signal an Merkel. Auch Gesprächspartner in der Wirtschaft oder Konkurrenten auf europäischem Parkett werden das aufmerksam wahrnehmen und wissen, dass die Kanzlerin in ihrem politischen Herbst steht.
Nun sind die drei Parteichefs Merkel, Nahles und Seehofer, jede für sich, im jeweiligen Lager angezählt. Und im Oktober stehen mit Bayern und Hessen zwei Landtagswahlen an, die beide das Zeug haben, bis nach Berlin auszustrahlen.
Erst nach den Wahlen
Bei diesen Wahlen sind zwei unionsgeführte Landesregierungen zumindest gefährdet. Erst nach diesen Entscheidungen wird eine Grundstimmung für den CDU-Bundesparteitag im Dezember in Hamburg klarer werden.
Anfang dieses Jahres gelang Merkel mit der plötzlichen Etablierung von Annegret Kramp-Karrenbauer als neuer CDU-Generalsekretärin noch ein Coup. Deren Wahl Ende Februar in Berlin geriet zu einer Jubelfeier. Aber seit Brinkhaus ist klar: In der Union kann jede Stimmung binnen eines Monats endgültig gegen Merkel kippen. Jederzeit.
Irgendwann wird sie ankündigen müssen, ob sie erneut als CDU-Vorsitzende antritt. "Das wird sie machen", sagt der Politikwissenschaftler Gero Neugebauer der Deutschen Welle. "Weil sie nur aus dieser Position heraus die nötige Autorität hat, auch gegenüber der Fraktion als Parteivorsitzende aufzutreten. Insofern, denke ich, sie wird ihre Stellung konsolidieren." Aber auch Neugebauer erwartet, dass Frau Merkel bereits überlegt, wer ihr als Parteivorsitzender folgen wird.