Merkel will es nicht allein schaffen
14. Oktober 2015Kurz nach sieben Uhr abends erheben sich die knapp 1000 Besucher von ihren Sitzen und applaudieren: Angela Merkel betritt den Saal. Es ist die dritte Zukunftskonferenz der Christdemokraten binnen sechs Tagen. Nach Wuppertal im Westen und Stade im Norden ist dieses Mal der Osten dran: Schkeuditz heißt der Ort, wo sich die CDU-Familie trifft. Das "Globana Trade Center" wurde auf der Grünen Wiese errichtet - eine moderne, uncharmante Messe- und Konferenzhalle aus Blech und Beton. Sie steht zwischen dem Flughafen Leipzig/Halle und der Autobahn 9. Von hier kann man in 90 Minuten Berlin erreichen.
In der Hauptstadt laufe einiges schief
Von dort ist Innensenator Frank Henkel in die sächsische Provinz gekommen. Er könnte eine Menge zum Thema Asyl- und Flüchtlingspolitik beitragen. In der deutschen Hauptstadt läuft einiges schief, insbesondere bei der Registrierung der vielen Tausend Flüchtlinge, wie immer wieder berichtet wird.
Doch zunächst ist die Kanzlerin dran. Sie kommt gleich zur Sache. Es mache in der Flüchtlingskrise keinen Sinn, die Sorgen, Ängste und Fragen der Menschen "unter den Tisch zu kehren". Aber es zeichne die Christdemokraten seit jeher aus, in schwierigen Situationen anzupacken. "Was leitet uns, was sind unsere Grundsätze?" So fragt Merkel und gibt selbst die Antwort: das christliche Weltbild. Schon im nächsten Satz ist sie unter Verweis auf Artikel 1 des Grundgesetzes bei der Unantastbarkeit der menschlichen Würde. Die gelte für alle Menschen in Deutschland, aber auch in der ganzen Welt. Merkel erwähnt auch die Genfer Flüchtlingskonvention.
"Frau Bundeskanzlerin, bitte machen Sie die Grenzen zu!"
Doch schnell ändert die CDU-Vorsitzende ihre Tonlage: Die allermeisten Flüchtlinge aus Kriegsgebieten bekämen zunächst einen auf drei Jahre begrenzten Schutzstatus. Wenn der Krieg vorbei sei, müssten und wollten die meisten zurück in ihre Heimat. Merkel will ihrem Publikum die Angst vor unkontrollierbaren Zuständen nehmen. Das gelingt ihr nur bedingt. Die einen bedanken sich für die "Menschlichkeit, die Sie in den vergangenen Wochen gezeigt haben". Andere warnen vor "Parallelgesellschaften" und machen ihrem Unmut Luft: Merkel habe die "Schleusen geöffnet", alle kämen ins "Schlaraffenland Deutschland". Einer hat Angst um seine Kinder und Enkelkinder und verlangt: "Frau Bundeskanzlerin, bitte machen Sie die Grenzen zu!"
Merkel hört sich alles geduldig an. Sie sitzt oben auf der Bühne, eingerahmt von sechs Männern, CDU-Funktionären aus den ostdeutschen Landesverbänden. Die massive Kritik prasselt auf die Kanzlerin nieder, obwohl sie in ihrer Rede mehrmals betont, wer nicht bleiben dürfe: Flüchtlinge, die aus wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland kämen. Denen werde man sagen, "ihr müsst wieder nach Hause zurück". Für diesen Satz gibt es den lautesten Beifall. Andere Sätze werden stumm zur Kenntnis genommen. Auch als sie sagt: "Ja, wir schaffen das. Aber ich habe nicht gesagt: Wir schaffen das allein." Es handele sich um eine Herausforderung, vor der die ganze Welt stehe. Mit anderen Worten: "Wir schaffen das nicht ganz allein", so Merkel wörtlich.
Merkel verweist auf ihre europäische Flüchtlings-Diplomatie
Sie könne aber nicht versprechen, Deutschland mit einem Zaun zu umstellen, "durch den kein Mensch mehr kommt." Merkel spricht über ihre bevorstehenden Reisen zum Europäischen Rat in Brüssel und in die Türkei. Dort werde sie sich in der Flüchtlingsfrage dafür einsetzen, "zu einer fairen Aufteilung in Europa kommen". Die CDU-Chefin sagt auch, "es wird keine sozialen Leistungen für Flüchtlinge geben, die nicht in Deutschland bleiben können." Auch dafür gibt es Beifall. Als sie die vielen Millionen Flüchtlinge erwähnt, die im Libanon, in Jordanien und der Türkei in Lagern lebten, schweigen ihre überwiegend skeptischen Partei-Freunde.
Hartnäckig wirbt Merkel für ihren Kurs in der Flüchtlingspolitik. Das sei die "größte Kraftanstrengung nach der Deutschen Einheit, wahrscheinlich noch darüber hinaus". Ganz wichtig sei nun die Kontrolle der europäischen Außengrenzen. "Das ist nicht so einfach." Schlauchboote mit Flüchtlingen im Mittelmeer, die man immer im Fernsehen sehe, seien nicht weit weg. "Das spielt sich alles vor den Toren Europas ab." Und wieder betont Merkel, abgelehnte Asylbewerber, namentlich aus dem Westbalkan, werde man aus Deutschland abschieben. Das seien mehr als 100.000, schiebt die Kanzlerin hinterher.
Innensenator Henkel: "Wie lange können wir das noch aushalten?"
Die Bundeskanzlerin verlässt Schkeuditz nach drei anstrengenden Stunden mit gemischten Gefühlen. Der Gegenwind aus den eigenen Reihen wird rauer. Viele an der CDU-Basis sorgen sich, Wähler an die rechtsradikale NPD zu verlieren oder die "Salon-Nazis" - so ein Redner - der Alternative für Deutschland (AfD). Frank Henkel, der Berliner Innensenator, versucht sich als Mediator: "Wie lange können wir das noch aushalten?", fragt er angesichts des nicht enden wollenden Flüchtlingsstroms. Es ist eine Frage, auf die an diesem Abend natürlich niemand eine alle befriedigende Antwort hat. Henkel beglückwünscht Merkel zur bevorstehenden Verschärfung des Asylrechts in Deutschlands. Soll heißen: Seht her, die Bundeskanzlerin packt doch längst an. Die meisten im schmucklosen "Globana Trade Center" sind spürbar anderer Meinung.