Merkels dramatischer Juni
22. Juni 2018Die große Koalition aus CDU/CSU und SPD ist gerade mal 100 Tage im Amt, aber von Feierlaune ist nichts zu spüren. Im Gegenteil, der Streit um die Asylpolitik hat einen tiefen Keil zwischen die Unionsparteien getrieben und die SPD frustriert. Wird Deutschland zum Ende des Monats überhaupt noch von dieser Zweckgemeinschaft unter Kanzlerin Angela Merkel regiert? Diese Frage wird immer drängender. Merkel setzt im Gegensatz zu ihrem Innenminister Horst Seehofer von der CSU auf eine europäische Lösung.
Sie will ihr Schicksal und das ihrer Politik in die eigene Hand nehmen. Obwohl es innenpolitisch brennt, ist Merkel dafür auch ins Ausland gereist. Bei ihrem Besuch in Jordanien und Libanon am 21. und 22. Juni warb sie dafür, dass Flüchtlinge in angrenzenden Ländern untergebracht werden, anstatt nach Europa zu kommen. Nun muss die Kanzlerin in den nächsten Tagen bei weiteren wichtigen Terminen im In- und Ausland etwas erreichen.
24. Juni: Die europäische Bühne
Auf dem EU-Sondergipfel, an dem mindestens zehn Mitgliedsstaaten teilnehmen, gibt es nur ein Thema: die Flüchtlingspolitik. Merkel sucht am Sonntag in Brüssel nach Verbündeten für ihre europäische Lösung. Hilfe von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ist ihr sicher. Österreichs Kanzler Sebastian Kurz wird sich dagegen von ihren Plänen distanzieren. Gegenwind kommt auch aus Italien. Regierungschef Giuseppe Conte äußerte sich verärgert über einen bereits kursierenden Entwurf für einen Abschlusstext.
Die Visegrad-Staaten Ungarn, Polen, Tschechien und die Slowakei lehnen das Treffen als "inakzeptabel" ab und bleiben fern. Wenn Merkel mit ihren Ideen nicht ausreichend Gehör findet, könnte Seehofer seine Drohung wahrmachen und Flüchtlinge im Alleingang an der deutschen Grenze abweisen lassen. Bei dem Treffen in Brüssel wird sich auch zeigen, was an Zusammenhalt innerhalb der EU überhaupt noch übrig ist.
25. Juni: Rückendeckung von der Parteispitze
Vor jeder Schlacht versammeln die Feldherren ihre Getreuen, um sie auf das gemeinsame Ziel einzuschwören. In der Politik ist das ähnlich. Am Montag trifft sich das CDU-Präsidium. Mit dem engsten Führungszirkel der Christdemokraten berät Merkel die Ergebnisse des EU-Sondergipfels und die Strategie für das weitere Vorgehen. In diesen entscheidenden Tagen gilt es als sicher, dass sich die CDU-Führung geschlossen hinter ihre Vorsitzende stellt.
26. Juni: Ein erster Stimmungstest
Am Dienstag dürfte es dagegen brenzlig werden. Dann tagt die Unionsfraktion mit den Spitzen von CDU, CSU und SPD, in der eine breite Unterstützung fast ausgeschlossen ist. Die CSU-Abgeordneten stellten sich zuletzt erwartungsgemäß einstimmig hinter ihrem Parteikollegen Seehofer. Zudem rumort es bei CDU-Parlamentariern. Ihre volle Unterstützung für Merkel ist fraglich. Die Sitzung ist ein wichtiger Gradmesser, wie groß der Rückhalt für die Kanzlerin in der Unionsfraktion noch ist. Außerdem treffen sich die Spitzen der Koalitionsparteien zu einer Krisensitzung.
Auch dort ist Krach absehbar. Die SPD lehnt den CSU-Plan mit Zurückweisungen an der Grenze ab. SPD-Chefin Andrea Nahles sagte vor kurzem, an die CSU gewandt, sie sei "nicht bereit, diese Mätzchen noch weiter mitzumachen". Es gehe in dem Streit nur um die Landtagswahl in Bayern im Herbst. Innenminister Seehofer wiederum warnte Merkel in einem Interview davor, ihn zu entlassen, und betonte, es werde "aus einer Mickey Maus ein Monster gemacht". Seehofer wirft seiner Regierungschefin vor, ihn nicht genügend zu informieren. Er fordert Erklärungen zu den deutsch-französischen Vorschlägen für den bevorstehenden EU-Reformgipfel.
26. Juni: Mögliche EU-Hilfe
Die Kanzlerin kann an dem Dienstag also jede Unterstützung gebrauchen. Die könnte sie noch am gleichen Tag von Donald Tusk bekommen, der Berlin besucht. Der EU-Ratschef hatte einen Vorschlag eingebracht, mit dem der Asylstreit geschlichtet werden könnte: Aus Seenot gerettete Flüchtlinge sollen demnach zu zentralen Sammelpunkten gebracht werden, wo direkt über ihre Schutzbedürftigkeit entschieden wird. Diese Sammelpunkte sollen außerhalb der EU eingerichtet werden.
28. und 29. Juni: Die großen Bühnen
Nun müssen die Karten aufgedeckt werden. Die Zeit taktischer Spielereien dürfte vorbei sein. Am Donnerstagmorgen hält Merkel im Bundestag ihre Regierungserklärung, bevor sie zum regulären EU-Gipfel nach Brüssel fliegt. Jetzt muss sie möglichst konkret erklären, wie es weitergehen soll. Beim zweitägigen Treffen der europäischen Staats- und Regierungschefs dürfte erneut die Flüchtlingspolitik das entscheidende Thema sein. Dort wird sich zeigen, welche Zugeständnisse Merkel für ihre Vorstellung einer gemeinsamen europäischen Flüchtlingspolitik machen muss. In Europa gilt derzeit verstärkt: Alles hängt von allem ab.
1. Juli: Showdown in Berlin
Sonntag ist der Tag der Entscheidungen. Ausgerechnet wenn Österreich die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt, beraten die CDU-Parteigremien die EU-Gipfel-Ergebnisse und den weiteren Kurs in der Asylpolitik. Merkel betonte, dass diese Sitzung ergebnisoffen sein solle. Falls sie in Brüssel mit ihren Vorschlägen gescheitert sei, gebe es keinen Automatismus für Zurückweisungen an den deutschen Grenzen. Horst Seehofer wird das voraussichtlich ganz anders sehen und genau dies bei einem Scheitern anordnen. So lassen sich seine bisherigen Aussagen interpretieren. Das Chaos wäre perfekt. Von der Entlassung Seehofers, der Vertrauensfrage Merkels oder Neuwahlen bis zu ihrem Rücktritt wäre fast alles möglich. Auf jeden Fall käme es zum Bruch der großen Koalition.
Zum Ende des Monats könnte Merkels politische Karriere vor dem Aus stehen. Oder: Die Kanzlerin triumphiert doch noch – wie so oft. Wohin auch die Reise geht, noch am Sonntagabend muss Merkel irgendein Ergebnis dem deutschen Wähler schmackhaft machen. Dann ist sie zum großen TV-Sommerinterview des Zweiten Deutschen Fernsehens eingeladen.