Merkels Zukunftsdialog
7. Juni 2012"Das ist viel Leben in der Bude" - mit diesem Satz zog Angela Merkel eine vorläufige positive Bilanz ihres Zukunftsdialogs am Donnerstagabend (07.06.2012) in Berlin. Seit einem Jahr diskutiert die Bundeskanzlerin mit Wissenschaftlern, Bürgern und Jugendlichen nicht nur öffentlich, sondern auch auf einem rege genutzten Internet-Portal darüber, wie das Leben in Deutschland in zehn Jahren aussehen soll. Gesucht werden Vorschläge zu den Fragen: Wie wollen wir lernen? Wovon wollen wir leben? Politik müsse auch in langen Zeiträumen denken und nicht nur bis zur nächsten Wahl, betonte Merkel auch bei der letzten Station des Dialogs am Donnerstag unterm Dach des Bundeskanzleramts in Berlin. Der Titel der Veranstaltung lautete: "Voneinander lernen. Neue Wege im Verhältnis von Bürger und Staat".
Geladen waren 93 Studenten aus 25 Ländern von der "Hertie School of Governance", einer privaten Hochschule für Politik und Verwaltung in Berlin - und zwei Regierungschefs: der britische Premierminister David Cameron und Norwegens Ministerpräsident Jens Stoltenberg. Beide gelten als erfahren in Fragen moderner Demokratie in Zeiten des Internets und neu erwachter Bürgerbeteiligung. Cameron führt regelmäßig Gesprächsrunden mit Studenten, bei denen er mit hochgekrempelten Hemdsärmeln Bürgernähe sucht. Stoltenberg hatte nach den erschütternden Breivik-Morden sehr erfolgreich eine breite Bürgerdiskussion initiiert.
Zu wenig Zeit für die Studenten
Die Studenten hatten im Vorfeld in Arbeitsgruppen darüber diskutiert, wie sie sich "Demokratie im Jahr 2022" vorstellen und Vorschläge gesammelt. Das allerdings gelang nur teilweise. Denn in der ersten Hälfte der Veranstaltung stellte ein Moderator Fragen an die drei Regierungschefs - die dann untereinander diskutierten und die Studenten zu reinen Zuhörern machten. Sylvia und Jan zum Beispiel waren am Ende enttäuscht. Sie hatten sich mehr erhofft, viele Fragen seien nicht gestellt oder nicht ausreichend beantwortet worden.
"Mit 70 ist man noch nicht alt!"
Kanzlerin Merkel sprach über das Thema Zeitmanagement. Sie zitierte aus einem Wissenschaftsvortrag und nannte als entscheidende Frage des 21. Jahrhunderts im Wettbewerb zwischen den Nationen die der Zeitverteilung. "Wir haben noch keine Rolle für die Lebensphase nach 65 gefunden", sagte Merkel. "Wer heute geboren wird, wird statistisch 100 Jahre alt. Früher wurden alle Weichen zwischen dem 18. und 40. Lebensjahr gestellt worden - und heute? Mit 70 ist man noch nicht alt!"
Ein Student wollte daraufhin wissen, was die Politiker tun wollten, damit junge Menschen wie er ein Studium in mehreren Ländern, Karriere, Familiengründung und auch noch Parteiarbeit unter einen Hut bringen können. Politik lerne man am besten, wenn man sich in einer Partei engagiere, hatten alle drei Regierungschefs zuvor behauptet. Es sei genug Zeit, antwortet Cameron, schweifte dann aber vom Thema ab, und betonte, dass Europa im Wettbewerb mit China stehe und der Binnenmarkt in vielen Bereichen noch nicht funktioniere. Kanzlerin Merkel nutzte ihre Antwort, um sich gegen ein bedingungsloses Grundeinkommen auszusprechen. Jeder müsse von seiner Arbeit versuchen zu leben, und generell sei die Flexibilität heutzutage sehr hoch.
Neidisch auf die Piraten
"Wenn alle ungeduldig sind, dann muss ich geduldig bleiben", antwortete die Kanzlerin auf die Frage nach der aktuellen Eurokrise. Und auf den Erfolg der Piratenpartei in Deutschland angesprochen, gab Merkel zu. "Ja, ich bin neidisch auf die Piraten und ihr großes Thema Transparenz. Die sind alle super vernetzt. Ich aber muss schon Jahre daran arbeiten, wenigstens die E-Mail-Adressen aller CDU-Mitglieder zusammen zu kriegen." Doch Bürgerbeteiligung, wie sie die Piraten propagierten, hätte auch ihre Grenzen. "Ich kann nicht erst 80 Millionen Deutsche fragen, bevor ich etwas zum Syrien-Konflikt sage. Da würde Cameron aber ziemlich drängeln", scherzte Merkel mit ihrem linken Sitzpartner.
Mit jeder Etappe des Zukunftsdialogs hat Angela Merkel es besser verstanden, ihre Politik und ihre Motivation zu erklären. Sie hat damit zwar nicht die Probleme der Bürger gelöst, aber Transparenz demonstriert. ZumThema gesetzlicher Mindestlohn hatte sie in der Runde der Jugendlichen ihre Position auf die Bemerkung zugespitzt, dass es nicht viel bringe, wenn der Friseurbesuch so teuer würde, dass Mütter ihren Söhnen die Haare wieder selber schneiden würden. Oder jetzt gegenüber den Elite-Studenten, die nach Solidarität in der Europäischen Union fragten. Merkel gab zu bedenken, dass es in Griechenland auch am Glauben fehle, dass die internationalen Hilfsmaßnahmen helfen. Am Geld allein könne es nicht liegen. Griechenland habe schließlich schon das Zigfache von dem überwiesen bekommen, was nach dem Zweiten Weltkrieg im Rahmen des Marshall-Plans Europa geholfen hätte.
Obwohl Norwegen kein EU-Mitglied und Großbritannien kein Euro-Land ist, betonten alle drei Regierungsvertreter, wie wichtig ihnen gemeinsame Ziele seien. Europa lebe nicht nur von seinen Institutionen, sondern auch von Kontakte zwischen seinen Menschen, betonte Cameron. Als Vertreter eines kleinen Landes hätte er allerdings manchmal Angst davor, dass Entscheidungen außerhalb der demokratischen Institutionen getroffen würden, merkte der norwegische Ministerpräsident an. Zusammen wollten sie der Studenten-Elite wohl auch zeigen, dass Europa ihnen eine Zukunft biete und keiner abwandern müsse, so wie Merkel es zuvor noch als Aufgabe einer zukunftsorientierten Politik formuliert hatte.