Mexikos erste Präsidentin vor großen Herausforderungen
4. Juni 2024Im Oktober wird Claudia Sheinbaum die Nachfolge des scheidenden Präsidenten Andrés Manuel López Obrador antreten - als erste Frau an der Spitze Mexikos. Die 61-jährige promovierte Physikerin erhielt nach den vorläufigen Ergebnissen des Nationalen Wahlinstituts (INE) zwischen 58 und 60 Prozent der Stimmen. Auf Platz zwei landete die konservative Kandidatin Xóchitl Gálvez mit knapp 30 Prozent. Damit haben sich fast 90 Prozent der Wählenden für eine Frau entschieden.
"Der Wahlsonntag brachte ein historisches Wahlergebnis. Das war zwar grundsätzlich so erwartet worden, aber in seiner Deutlichkeit überraschte es dann doch, vor allem bei den Kongress- und Regionalwahlen", so Florian Huber, Leiter des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Mexiko.
Mexikos Mammutwahl schafft neue Mehrheiten
Denn am Sonntag wurde in Mexiko nicht nur über das Amt des Präsidenten abgestimmt. Knapp 100 Millionen Menschen haben bei den größten Wahlen in der Geschichte des Landes auch den Kongress, die Regierungen von neun Bundesstaaten sowie mehr als 20.000 öffentliche Ämter neu gewählt. In der Abgeordnetenkammer erreichte Sheinbaums Partei Morena (Movimiento Regeneración Nacional) nach den vorläufigen Ergebnissen eine Zweidrittelmehrheit, im Senat steht sie knapp davor.
Die künftige Staatschefin hat damit ein viel besseres Ergebnis eingefahren als ihr politischer Ziehvater vor sechs Jahren. Andrés Manuel López Obrador, Spitzname: AMLO, genoss bis kurz vor Ende seiner Amtszeit große Popularität mit Zustimmungswerten um die 60 Prozent. Darum gehen die meisten Beobachter davon aus, dass Sheinbaum als allererstes versuchen wird, aus dem politischen Schatten ihres Vorgängers zu treten. "Mit diesem Ergebnis kann Sheinbaum, die als ziel- und ergebnisorientiert gilt, politisch gestärkt und selbstbewusst das Erbe von López Obrador antreten", betont Florian Huber gegenüber DW.
Kann die Staatschefin jetzt die Verfassung nach Belieben ändern? Diese Gefahr sieht Hans Blomeier, Leiter des Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Mexiko: Angesichts der voraussichtlichen Mehrheitsverhältnisse im Kongress wäre das leicht möglich. "Was das für den Zustand der mexikanischen Demokratie bedeutet, bleibt abzuwarten und hängt von der konkreten politischen Agenda der neuen Regierung ab", erklärt er im DW-Gespräch. Die entscheidende Frage sei, ob Sheinbaum die Probleme der inneren Sicherheit, Wirtschaft, Energie- und Gesundheitsversorgung angehe oder die Politik von López Obrador einfach fortführe.
Drogen, Gewalt und Kriminalität
Sheinbaum hatte in ihrem Wahlkampf versprochen, die Sicherheitslage zu verbessern und das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen wiederherzustellen.
Mexiko leidet seit Jahren unter einer hohen Gewaltkriminalität, vor allem durch die Drogenkartelle. 1890 Menschen wurden laut offiziellen Angaben im vergangenen Jahr bei Auseinandersetzungen zwischen den mächtigen Kartellen getötet. Seit Beginn eines umstrittenen Militäreinsatzes gegen sie im Jahr 2006 wurden in dem Land mehr als 450.000 Menschen getötet, weitere 100.000 gelten als vermisst.
Außenpolitische Öffnung unumgänglich
Die Amtszeit von López Obrador war geprägt von einer bemerkenswerten selbstauferlegten außenpolitischen Abstinenz. Der mexikanische Präsident war für seine Reiseunlust bekannt und besuchte nur ein einziges nicht-spanischsprachiges Land: die USA. Eine weitere Reise ins Ausland im Jahr 2021 führte ihn nach Zentralamerika: in die Länder Guatemala, El Salvador, Honduras, Belize und Kuba.
Sheinbaum werde von dieser eher isolationistischen Außenpolitik abrücken, glaubt Günther Maihold, Mexiko-Experte vom Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin. "Schwierig dürfte die Beziehung zu den USA werden - unabhängig davon, wer dort im November die Präsidentschaftswahlen gewinnt." Auf der Agenda stünden die Themen Migration und Sicherheitspolitik. Dazu käme eine Revision des Freihandelsabkommens mit den USA und Kanada. Europa wiederum wolle sein Freihandelsabkommens mit Mexiko modernisieren. Dazu werde "sicherlich auch eine Entspannung des Verhältnisses zwischen Spanien und Mexiko notwendig sein".
Regierungsstil: Technokratisch statt aufbrausend
Der scheidende Präsident stand für einen polarisierenden und aggressiven Regierungsstil. In seinen täglichen Pressekonferenzen monologisierte er stundenlang über die angeblichen Erfolge seiner Regierung und zog gerne über seine Kritiker her, wahlweise Journalisten, Umweltschützer, Intellektuelle oder Menschenrechtsaktivisten. Mit Sheinbaum scheint Mexiko nun eine ruhigere und zurückhaltendere Führung zu bekommen.
"Zunächst dürfte Scheinbaum einen deutlich technokratischeren Regierungsstil praktizieren als López Obrador", erklärt Günther Maihold gegenüber der DW. Sie könne ohne Gegengewicht regieren, wenn ihre Partei in beiden Parlamentskammern die absolute Mehrheit gewönne. "Das dürfte es ihr einfacher machen, aus dem Schatten von López Obrador herauszutreten und ihr eigenes Profil mit größerer Unabhängigkeit zu entwickeln."
Auch Florian Huber von der Heinrich-Böll-Stiftung äußert ähnliche Hoffnungen: "Bei ihrer Siegesrede sendete Scheinbaum auch Zeichen der Versöhnung nach der starken Polarisierung im Land durch AMLOs konfrontativen Politikstil der vergangenen Jahre." Sie wolle für alle Menschen im Land reagieren, hatte Sheinbaum gesagt. "Es bleibt abzuwarten, wie sie das ab Oktober umsetzen will."