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Migranten in Ostdeutschland – gehen oder bleiben?

19. September 2024

Die AfD macht bei den Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg massiv Stimmung gegen Zuwanderer. Dabei geht ohne Fachkräfte längst nichts mehr.

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Vier Männer stehen vor einem Flugzeug-Triebwerk
Geschäftsführer Stefan Landes (Zweiter von links) mit internationalen Fachkräften Luis (links), TJ und Yuth vor Triebwerk Bild: Elke Siedhoff-Müller/N3

In einer kleinen Stadt in Thüringen lässt ein mittelständisches Unternehmen etwas ganz Großes fliegen. N3 Engine Overhaul Services heißt die aufstrebende Firma in Arnstadt, die Flugzeugmotoren für mehr als 50 Airlines instand hält, damit der Airbus A380 oder der Boeing-Dreamliner in die Lüfte steigen können. Der Laden brummt: 150 Millionen Euro nimmt die Tochtergesellschaft von Lufthansa und Rolls-Royce jetzt nochmal in die Hand, um zu expandieren und in Zukunft sogar 250 Triebwerke pro Jahr zu warten. Eine internationale Erfolgsgeschichte, sagt der kaufmännische Geschäftsführer Stefan Landes gegenüber der DW.

"Wir sind ein Business, das Menschen und Kulturen miteinander verbindet und zusammenbringt, um an diesem tollen Produkt zu arbeiten. Das ist auch Teil unserer DNA. Es ist eine verfehlte Wahrnehmung, dass das nur aus dem eigenen Saft geht. Ohne gute Impulse von anderen Unternehmen, von anderen Kulturkreisen wären wir nicht dahin gekommen, wo wir heute sind."

1.100 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen haben daran ihren Anteil, N3 beschäftigt Personal aus insgesamt 25 Nationen. Darunter IT-Spezialist TJ aus den Philippinnen, der chilenische Luft- und Raumfahrtingenieur Luis oder auch Yuth aus Thailand, der in der Kundenbetreuung arbeitet. Alle drei schwärmen von den Arbeitsbedingungen, vom Teamgeist und der Chance, sich auf Englisch einbringen zu können. Aber wie war ihre Reaktion auf den Sieg der AfD bei den Landtagswahlen in Thüringen, die vom Verfassungsschutz als erwiesen rechtsextrem eingestuft wird? Yuth sagt gegenüber der DW:

"Ich bin schon ein wenig besorgt, aber ich habe keine Angst. Parteien sollten keine Stereotype verwenden und alle Zuwanderer in einen Topf werfen. Wir kommen hier in eine aufstrebende Firma, leisten unseren Beitrag und tun damit etwas Gutes nicht nur für das Unternehmen, sondern für ganz Deutschland."

Fünf Männer sitzen um einen Tisch verteilt
"Wir brauchen ein Umfeld, das wirtschaftliche Stabilität, Wachstum und Investitionen zulässt" - Gespräch mit der DWBild: Elke Siedhoff-Müller/N3

In Arnstadt lässt sich der ganze Widerspruch Thüringens mit Händen greifen: Einerseits ein aufstrebendes, global denkendes Unternehmen, das erfolgreich an der Zukunft des Wirtschaftsstandortes bastelt. Auf der anderen Seite eine Partei mit einem AfD-Landeschef Björn Höcke, der zurück in die Vergangenheit will, der sich ein Deutschland ohne Zuwanderer und dafür mit 20 oder 30 Prozent weniger Menschen gut vorstellen kann. Und der den Unternehmen schwere wirtschaftliche Turbulenzen wünschte, die sich an der Kampagne "Made in Germany – made by Vielfalt" beteiligt hatten. Stefan Landes:

"Wir sind darauf angewiesen, Fachkräfte zum Beispiel aus Asien zu uns zu holen. Der Erfolg von N3 wäre ohne internationale Fachkräfte gar nicht möglich. Wir würden mit einer Politik, die hier Mauern hochzieht und auf Abschottung setzt, scheitern. Jemand, der sich wünscht, dass Unternehmen, die weltoffen sind, in schwere Turbulenzen geraten, wie Herr Höcke, hat von Wirtschaftspolitik relativ wenig Ahnung."

Gesundheitssystem in Thüringen stände ohne Migranten vor dem Zusammenbruch

Mittelständische Unternehmen wie N3 hätten ohne Spezialisten aus der ganzen Welt massive Zukunftsprobleme, Ostdeutschland trifft der Fachkräftemangel allerdings schon jetzt massiv. 42,1 Prozent der ostdeutschen Unternehmen gaben in einer Umfrage des Ifo-Wirtschaftsinstitutes an, dass bereits im ersten Quartal 2024 ihre Geschäfte durch fehlendes Fachpersonal beeinträchtigt sind.

Nicht nur die Wirtschaft ist massiv von fehlender Zuwanderung betroffen, auch das Gesundheitswesen. In Thüringen, einem der Bundesländer mit der geringsten Ärztedichte, kommt jeder vierte Krankenhaus-Arzt mittlerweile aus dem Ausland. Die meisten der 1.700 ausländischen Ärzte kommen aus Syrien, Rumänien oder der Ukraine. Einer von ihnen: Der syrische Kardiologe Anas Jano, der seit 2023 als Oberarzt am Uniklinikum von Jena arbeitet. Er sagt, viele seiner ausländischen Kollegen würden sich Sorgen machen, wie sich die Situation nach dem AfD-Wahlsieg weiterentwickelt.

"Die Ärzte bemühen sich, sich hier ins Gesundheitssystem einzubringen, es ist ein ganz langer Weg, zum Beispiel auch die deutsche Sprache zu beherrschen. Aber man hat manchmal das Gefühl, dass es trotzdem nicht reicht, gleich behandelt zu werden, dass also Herkunft und Hautfarbe immer noch eine Rolle spielen. Und wenn man sich mit anderen Kollegen austauscht und diese Geschichten hört, dann wird man sich natürlich zweimal überlegen, zum Beispiel nach Thüringen zu kommen."

Deutschland | der interventioneller Kardiologe  Dr. Anas Jano
"Die Kollegen aus dem Ausland brauchen eine langfristige Perspektive für sich und ihre Familien" - Anas JanoBild: Privar

Das Problem ist aber nicht nur das dringend benötigte medizinische Fachpersonal, das nicht kommt. Sondern auch die vielen Ärztinnen und Ärzte, die nach kurzer Zeit wieder gehen: Mehr als die Hälfte der Fortgezogenen blieb weniger als zwei Jahre in Thüringen. Der Erfolg der AfD lässt jedoch nicht nur die Migrantinnen und Migranten in Ostdeutschland ins Grübeln kommen. Eine aktuelle Umfrage des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DEZIM) kommt zu dem Ergebnis, dass jede vierte Person mit Migrationshintergrund zumindest hypothetisch erwägt, Deutschland zu verlassen. Der Kardiologe Samer Matar, Gründungsmitglied der Syrischen Gesellschaft für Ärzte und Apotheker in Deutschland:

"Die Kolleginnen und Kollegen schauen sich alle jeden Tag die Nachrichten an und wollen wissen, wohin die Reise geht. Viele sagen, wenn ein Herr Höcke an die Macht kommt, dann werde ich meine Kinder nicht hier erziehen lassen. Ein leitender Kollege und Oberarzt ist dieses Jahr auch genau deswegen umgezogen. Viele Kolleginnen und Kollegen überlegen, ob sie bleiben."

Auch in anderen Branchen ist Thüringen längst international

Es sind allerdings nicht nur die Luft- und Raumfahrtingenieure, die IT-Spezialisten und Ärzte mit Migrationshintergrund, die Thüringen am Laufen halten. In der Brotklappe in Weimar backt die Ukrainerin Oryna seit mehr als zwei Jahren hauseigene Spezialitäten wie Korianderbrot, das Batardbrot mit gerösteten Nüssen oder auch das japanische Milchbrot Shokupan. Währenddessen steht der Somalier Mohammed als Auszubildender hinter dem Verkaufstresen der beliebten Bio-Bäckerei. Er sagt gegenüber der DW:

"Ich habe mich nirgendwo so gut gefühlt wie in der Brotklappe, kein Vergleich zu dem Lager, wo ich vorher gearbeitet habe. Dort ging es nur um Geld. Hier hast Du dagegen einen Mitarbeiterkodex und diesen Respekt. Man schaut nicht, wie Du aussiehst, sondern allein, was Du tust und wie Du arbeitest."

Zwei Männer und eine Frau stehen in einer Bäckerei hinter dem Verkaufstresen
Brotklappe in Weimar: Gründer und Inhaber Sebastian Lück mit Oriana aus der Ukraine und Mohammed aus SomaliaBild: Oliver Pieper/DW

Auch für Oryna ist die Brotklappe mit ihren 70 Angestellten ein Paradebeispiel für ein aufgeschlossenes internationales Unternehmen, sie fühle sich wie in einer großen Familie. In einem Pilotprojekt soll die Bäckerei jetzt bei der Überwindung bürokratischer Hürden unterstützt werden, wenn sie Menschen mit Migrationshintergrund einstellt. Zu Hochzeiten waren Angestellte aus 13 Ländern bei der "Brotklappe" beschäftigt, Gründer Sebastian Lück hat das Mitzählen der Nationalitäten mittlerweile aufgegeben. Für ihn ist folgendes wichtig:

"Wir stellen auch Leute wie Oryna ein, die nur Englisch sprechen können. Bei uns können sich also Menschen vorstellen, die sich woanders vielleicht nicht bewerben können. Man muss die Dinge gut managen. Wenn wir einen Fachkräftemangel haben, muss man dafür sorgen, dass genügend Zuwanderer kommen, auch mit ausreichender Ausbildung."

Rassistische Anfeindungen nehmen seit dem AfD-Wahlsieg im Alltag zu

Doch alle sind sich einig: Die Tatsache, dass bei den Landtagswahlen vom 1.September beinahe jeder Dritte die rechte Alternative für Deutschland gewählt hat, macht es nicht einfacher, Menschen mit Migrationshintergrund nach Thüringen zu locken. In der jährlichen Studie "Thüringen-Monitor", die seit mehr als 20 Jahren die politische Kultur im Bundesland untersucht, sprach sich auch ein Drittel der Befragten gegen die Zuwanderung von Fachkräften aus dem Ausland aus. Jeder Fünfte habe demnach rechtsextreme Einstellungen. Das zeigt sich auch zunehmend auf der Straße.

"Seit dem 1. September sind Personen, die rechtsextrem sind, auch offener mit ihrem Hass. Schon am nächsten Tag wurde Menschen gesagt, die AfD kommt, bald seid ihr alle weg", sagt Bulganchimeg Nyamaa, Referentin für Demokratiearbeit bei der Organisation MigraNetz Thüringen. Auch Nyamaa selbst, die in der Mongolei geboren wurde, erlebt beinahe täglich Anfeindungen. "Gerade heute morgen hat mir eine Person an der Straßenbahnhaltestelle gesagt: 'Bald gehst Du zurück!‘. Die Leute starren Dich an und sind aggressiver geworden."

Aufstieg der extremen Rechten: Kippt Deutschland?

Für das Landesnetzwerk der mehr als 60 angeschlossenen migrantischen Organisationen in Thüringen müsste das eigentlich heißen: noch mehr Beratungen und Trainings gegen Diskriminierung, noch mehr politische Bildung- und Aufklärungsarbeit, noch mehr Unterstützung für internationale Studierende im deutschen Bürokratiedschungel. Doch gleichzeitig drohen MigraNetz massive Kürzungen der Landesfördermittel unter einer AfD- und selbst auch CDU-geführten Regierung, befürchtet Geschäftsführerin Elisa Calzolari. Ihr Appell:

"Es ist brandgefährlich, wie die demokratischen Parteien gerade diesem ausländerfeindlichen AFD-Narrativ hinterherlaufen, und es durch Wiederholen und Replizieren zur Normalität werden lassen. Eigentlich müssten diese sich mit zivilgesellschaftlich marginalisierten Gruppen, Initiativen, Verbänden und Vereinen zusammenschließen und ein positives neues Narrativ der Menschenwürde, Achtung und Teilhabe schaffen. Das passiert aber gar nicht momentan."

Porträt eines blonden Manns im schwarzen Hemd
Oliver Pieper DW-Reporter und Redakteur