Migration: Dramatische Lage in El Paso
22. Dezember 2022Bedächtig stellt José Luis die braunen Schuhe ab, die er ergattern konnte und lässt sich zwischen Decken und seinen Habseligkeiten auf dem Bürgersteig nieder. Es sind nur wenige Dinge, die er über die Grenze in die USA bringen konnte. Als er sich entschied, Venezuela - seine Heimat - zu verlassen, war er 25 Jahre alt.
Seinen richtigen Namen will José Luis nicht nennen. Dafür erzählt er bereitwillig von seiner Reise durch Chile, Ecuador, Kolumbien, Costa Rica, Nicaragua, Panama, Mexiko, um schließlich - vier Jahre später - mit 29 in die USA zu gelangen. Ein Mann reicht ihm ein wenig Essen, das er in seiner Hand hält, während er spricht. Neugierig schlängelt sich ein Kind an José Luis und den zwei Frauen vorbei, mit denen er zusammen in El Paso auf der Straße sitzt.
Die Grenzstadt, in der die drei ausharren, schlummert an diesem Tag in warmem Sonnenlicht zwischen malerischen Hügelketten im Süden des US-Bundesstaat Texas. Nur ein paar Straßenzüge weiter liegt der Grenzübergang zu Mexiko, an dem tausende Menschen versuchen, in die USA zu gelangen.
Die meisten, die es bis hierher auf die Straßen El Pasos geschafft haben, kommen aus Venezuela, so wie José Luis. Aber auch Menschen aus Guatemala, Nicaragua und sogar einige aus der Ukraine haben ihren Weg hierher gefunden.
Wie hunderte Menschen, die sich im Stadtzentrum kleine Lager gebaut haben, hofft José Luis auf eine Weiterreise in eine andere Stadt und auf eine Perspektive: "Ich suche nach einer Zukunft, nach einem Ort, an dem ich mich niederlassen, eine Familie gründen und ihr das bieten kann, was ich nicht hatte: eine bessere Lebensqualität", erzählt er.
Besonders in den vergangenen Tagen hatte eine hohe Zahl an Migrantinnen und Migranten die Südgrenze der USA überquert. Weil die Unterkünfte der Stadt bereits jetzt überfüllt sind und Menschen auf der Straße schlafen müssen, rief der Bürgermeister von El Paso am Wochenende den Notstand aus.
Durch Rechtsstreit in der Schwebe gelassen
Dass gerade jetzt so viele Menschen über die Grenze kommen, hängt auch mit der Regelung "Title 42" zusammen. Dieses Gesetz hatte es US-Behörden erlaubt, Migranten an der Grenze unter Verweis auf die Corona-Pandemie schnell zurückzuweisen und sollte Mitte Dezember aufgehoben werden.
Der Oberste Gerichtshof hatte dies auf Antrag einiger republikanisch geführter Bundesstaaten blockiert und die Regelung vorerst beibehalten. Sie soll nun, anders als ursprünglich geplant, erst nach Weihnachten fallen. Behörden aus El Paso rechnen mit 6.000 Menschen täglich, sobald die Regelung aufgehoben wird.
Schon längst ist ein Rechtsstreit um Title 42 entbrannt. Seit März 2020 wurde mit der umstrittenen Verordnung des damaligen Präsidenten Donald Trump mehr als zwei Millionen Migranten verweigert, nach amerikanischem und internationalem Recht Asyl zu beantragen.
Verzweiflung treibt Menschen zur Flucht
"Ich hatte nichts", sagt José Luis, als er auf seine lange Reise bis hierher zurückblickt. Er erzählt, dass er auf dem Weg ausgeraubt wurde, keine Hilfe hatte, allein war, Angst hatte zu sterben. Er ist mit seiner Geschichte nicht allein. Im Gespräch mit der DW erzählen viele hier, dass sie mehrere Länder durchquert haben. Was sie antreibt: Die Hoffnung auf ein besseres Leben für sich und für ihre Familien in der Heimat.
María, die zusammen mit José Luis hier in El Paso auf der Straße sitzt, ist erst 17 Jahre alt. Auch sie heißt in Wirklichkeit anders, will aber ihren richtigen Namen nicht preisgeben. Sie hat sich zusammen mit einer Freundin und deren Familie entschieden, Venezuela zu verlassen. "Venezuela zwingt jeden dazu, nach einem besseren Ausweg, einer besseren Gelegenheit zu suchen", erzählt sie. María und ihre Freundin sitzen auf schwarzen Plastiksäcken, in denen sie das, was sie noch an Kleidung besitzen, verstaut haben und wickeln sich in eine Decke.
Das Leben als Auswanderer in den USA, sagt José Luis, würde er dem in seiner Heimat immer vorziehen. "Egal, ob ich Straßenreiniger, Toilettenreiniger oder etwas anderes werde, ich will meiner Familie in Venezuela helfen, damit es ihr besser geht."
Hilfe von Einheimischen dringend notwendig
Etwa jede halbe Stunde rattert auf der Straße mitten im Stadtzentrum eine kleine Straßenbahn entlang. Vereinzelt halten Autos an, Einheimische verteilen Schuhe, Spielzeuge für Kinder, warme Jacken, Decken für die Nacht an die Menschen, die sich in einer Menschentraube um die Helfer scharen.
Auch Pastor Rafael García von der "Sacred Heart Church" hilft den Menschen, die vor seiner Kirche ausharren, so gut es geht. Warme Mahlzeiten, sanitäre Anlagen, Schlafplätze für einige wenige Menschen - er versucht es zu ermöglichen.
Doch die Situation wird immer dramatischer, je mehr Menschen kommen. Er sagt, die USA könnten Millionen von Menschen aufnehmen. Doch die Frage sei, wie sie aufgenommen würden: "Es ist sehr unmenschlich, wie die Menschen behandelt werden in diesem Engpass hier. Wenn man sie nicht schnell auch in andere Städte bringen kann, werden wir hier eine Katastrophe erleben", warnt García.
Er glaubt, dass Title 42 politisch benutzt wird. "Es ist ein Vorwand, um Leute fernzuhalten." Die Pandemie als Möglichkeit zu nutzen, um Menschen davon abzuhalten, Asyl zu beantragen, sei von Anfang an fragwürdig gewesen. "Es ist in vielfacher Hinsicht unfair und unehrlich, weil manche Menschen reingelassen werden und andere nicht."
Der Pastor weiß, dass die Menschen eine solch gefährliche Reise mit Kindern nicht auf sich nehmen würden, wenn die Verzweiflung dort, wo sie herkommen, nicht so groß wäre. Aber er weiß auch, dass seine Kirche allein nicht allen helfen kann.
Deshalb sind die Menschen auf Spenden und die Hilfe lokaler Organisationen wie "El Pasoans fighting hunger" angewiesen, die mit einem kleinen Rettungswagen durch die Straßen fahren und Lebensmittel an Migranten und Migrantinnen verteilen, die an den Busbahnhöfen in der Innenstadt festsitzen.
"Niemand sollte hungern, und das schließt die Migranten ein, die über die Grenzen kommen. Sie sind hier in unserer Stadt. Wir glauben, dass auch sie nicht hungern sollten", sagt Lonnie Valencia, Direktor von "El Pasoans fight hunger" der DW. "Wir kümmern uns um die Menschen, egal ob sie gerade ankommen, schon hier sind oder einfach nur durchreisen."
Streit um Titel 42: Keine Veränderung in Sicht
Die Diskussion um Title 42 ist mittlerweile zu einem politischen Tauziehen zwischen den Demokraten und Republikanern in Washington geworden. Wie die Einwanderungspolitik nach Auslaufen der Regelung aussehen könnte, ist bislang unklar. Vor allem mit einem neuen Kongress und einer republikanischen Mehrheit im Repräsentantenhaus wird es schwierig werden, eine Einigung zu finden.
Dass sich das Einwanderungssystem der USA grundlegend ändern wird, erwartet Ryan C. Berg, Lateinamerika-Analyst vom Center for Strategic and International Studies, nicht: "Die Regierung operiert in einem Rechtssystem, das seit Jahrzehnten nicht mehr aktualisiert wurde und das kaputte US-Einwanderungssystem ist inzwischen für beide Parteien zu einem politischen Instrument geworden", sagt Berg im Gespräch mit der DW. "Nur wenige Menschen haben ein echtes Interesse daran, das Problem zu lösen."
Auch die Biden-Regierung habe lange Zeit keine klare Haltung zu Trumps Title 42 gezeigt. Aus diesem Grund sei das Problem jahrelang nicht gelöst worden. Auch ein Abkommen mit Mexiko liegt in weiter Ferne. In der Zwischenzeit setze Washington seine Gespräche fort wie immer, kritisiert Berg.
Weit hinter José Luis und María erheben sich in der rötlichen Abenddämmerung die Berge über El Paso. Die Nacht bricht herein und die Kälte kriecht langsam und beharrlich unter die Kleider. Frauen, Kinder, ganze Familien versuchen, über Nacht einen Schlafplatz in den Räumlichkeiten der Kirche zu finden. Viele Männer wickeln sich in Decken ein und bereiten sich auf die Nacht vor. Es wird wieder eine Nacht, die sie draußen verbringen müssen.