Migration geht alle an
27. Dezember 2013Zuwachs ist eigentlich prima: Eltern freuen sich darauf, Wirtschaftsunternehmen freuen sich darüber - nur die deutsche Gesellschaft, die scheint Angst davor zu haben. Zumindest, wenn sie aufgrund der Zuwanderung von Menschen aus Südosteuropa wächst.
Diesen Eindruck vermittelt in jüngster Zeit jedenfalls die Boulevardpresse, die in großen Lettern und mit plakativen Phrasen Bedenkenträger zu Wort kommen lässt, die vor einer Einwanderungswelle aus Bulgarien und Rumänien warnen, vor dem Ausverkauf der deutschen Sozialsysteme und der Überflutung des deutschen Arbeitsmarktes.
Für Dorothee Frings, Professorin für Sozialrecht an der Hochschule Niederrhein, ist das unsachlich und schadet dem gesellschaftlichen Klima. Ihre Forderung: "Das Wichtigste ist, dass Politik und Medien aufhören, die Diskussion unter dem Motto 'Armutszuwanderung' und 'Die Zigeuner kommen' zu führen. Es handelt sich um eine Arbeitswanderung und die entspricht dem europäischen Projekt der offenen Märkte."
Auch Andreas Pott, Leiter des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien an der Universität Osnabrück (IMIS), kann derartige Befürchtungen nicht nachvollziehen, weil sie auf unbegründeten Annahmen beruhten: "Es ist viel Panikmache dabei! Wir wissen von früheren Beitrittsrunden, zum Beispiel mit Griechenland, Portugal und Spanien oder zuletzt Polen, dass es zwar zu messbaren Migrationsbewegungen kommt, dass das aber schon nach wenigen Jahren wieder zurückgeht."
Angst statt Vorfreude
Nach Ansicht des Experten hat sich Deutschland lange Zeit schwergetan, Migration als Tatsache anzuerkennen. Deshalb sei die Debatte sehr von Angst geprägt und nicht von der Überzeugung, durch Migration eine Gesellschaft gestalten zu können, so IMIS-Chef Pott.
Außerdem seien Bulgaren und Rumänen schon seit 2007 Jahren vollwertige EU-Bürger, jetzt komme lediglich die Möglichkeit hinzu, überall ohne Einschränkung Arbeit anzunehmen. Und die Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union gehe ja auch nicht in nur eine Richtung, betont der Migrationsforscher.
Denn es gebe auch Rück- und Weiterwanderung und davon profitiere ein Land wie Deutschland unter verschiedenen Gesichtspunkten: "Demografischer Wandel, Alterung, Schrumpfung der Gesellschaft, da ist Zuwanderung immer willkommen und nötig." Aber es gehe auch ganz konkret darum, dass sowohl hoch- als auch weniger qualifizierte Arbeitskräfte auf den deutschen Arbeitsmarkt kommen. In den vergangenen Jahren habe sich gezeigt, dass auch aus Ländern wie Rumänien und Bulgarien eine solche "differenzierte Zuwanderung" erfolgt sei.
Keine Sozialschmarotzer
Vielfach wird die Befürchtung geäußert, Bulgaren und Rumänen könnten jetzt massenhaft Sozialleistungen beantragen. Experten rechnen nicht damit, dass sich diese bewahrheiten, denn aktuelle EU-Statistiken zeichneten ein anderes Bild. Danach bezogen im vorigen Jahr rund neun Prozent aller in Deutschland lebenden Rumänen und Bulgaren Sozialleistungen.
Damit lagen sie deutlich unter dem Durchschnitt der übrigen ausländischen Bevölkerung (15,9 Prozent) und nur geringfügig über der Quote der gesamten Bevölkerung in Deutschland (7,4 Prozent). Beim Bezug von Kindergeld lagen sie mit 7,9 Prozent sogar um knapp die Hälfte unter der Quote der übrigen Ausländer (15,3 Prozent) und auch niedriger als der Bundesdurchschnitt (10,9 Prozent).
Dem Vorwurf, es würden aus Bulgarien und Rumänien vor allem Mitglieder der Volksgruppe der Roma nach Deutschland kommen, die kinderreich und arbeitsunwillig seien, hält Dorothee Frings ein Zitat von Bundespräsident Joachim Gauck entgegen: "'Eine ganze Gruppe von Menschen zu stigmatisieren und ihnen pauschal die Integrationsfähigkeit abzusprechen, setzt die unheilige Tradition jahrhundertealter Diskreditierung, Ausgrenzung und Verfolgung fort.' Das darf nicht der Geist sein, in dem wir mit diesem Thema umgehen."
Der Nürnberger Oberbürgermeister und Präsident des deutschen Städtebundes, Ulrich Maly, sagte in einem Interview mit Deutschlandradio Kultur, Deutschland habe an den Roma noch eine historische Schuld abzutragen und sollte sich ihnen deshalb in besonderer Weise zuwenden. Maly schlug zwei Wege vor: "Die erste Lösung ist, dass man den Menschen in ihrer Heimat hilft, sich dort ordentlich zu etablieren, und die zweite Lösung ist, dass man denjenigen, die zu uns kommen, auch ordentlich mit Integrationsleistungen in der Bundesrepublik Deutschland hilft."
Migration als Fortschritt
Für Andreas Pott ist der Wunsch danach, in einem anderen Land in möglicherweise besseren wirtschaftlichen Verhältnissen zu leben, nichts Verwerfliches. Im Gegenteil: "Das zeigt doch Innovationspotenzial. Die Menschen wollen ihre Lebensumstände verbessern, das war bei der Auswanderung der Deutschen in die USA genauso wie es heute in der Migration in der Europäischen Union zu beobachten ist."
Allerdings sei die Freizügigkeit für Personen viel schwerer zu verwirklichen als die der Waren-Mobilität oder die Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit, die es innerhalb der EU schon in weiten Teilen gebe.
Jedoch betrachte er mit Sorge seit etwa zehn Jahren eine Tendenz, die auch in der jetzigen Diskussion verstärkt zutage trete: Dass in Deutschland nämlich Migranten zunehmend nach Nützlichkeitserwägungen unterschieden werden. Das Eigeninteresse des Einwanderungslandes zu formulieren, sei eine Sache. Menschen nach ihrem Nutzen einzuteilen, sie zu stigmatisieren und ihnen Ausnutzung zu unterstellen, sei dagegen sehr problematisch, kritisiert Andreas Pott.
Diese Sichtweise sei inhuman und ignoriere den Bedarf an Einwanderern in allen Teilen der Gesellschaft. Außerdem unterschlage sie die Tatsache, dass auch Migranten sich ein höheres Bildungsniveau aneignen und sozial aufsteigen könnten.
Deshalb müssten, so der Migrations-Experte, möglichst schnell möglichst viele Hindernisse abgebaut werden, die Einwanderern die Integration in Deutschland immer noch erschweren. Und es müsse über den 1. Januar 2014 hinaus ein Umdenken stattfinden. "Dass wir in einer Gesellschaft leben, die durch und durch von Migration geprägt ist, und dass Migration als ein gesellschaftspolitisches Thema, das alle angeht, behandelt werden sollte - das ist die Aufgabe der kommenden Jahre."