Minderjährige Flüchtlinge, die verschwinden
26. Januar 2019Im Zuge der verstärkten Flüchtlingsbewegung nach Europa sind in den vergangenen Jahren auch Zehntausende Minderjährige alleine nach Deutschland gekommen - von denen einige direkt oder aber etwas später wieder vom Radar der Behörden verschwunden sind. So waren Zahlen des Bundeskriminalamtes (BKA) zufolge Anfang 2017 über 8400 von ihnen als vermisst gemeldet, bis Anfang 2019 sank die Zahl auf rund 3200.
Doch Entwarnung sollte dieser Rückgang nicht geben, wie Tobias Klaus vom "Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge" (BumF) erklärt: "Die Zahlen an sich sind natürlich deutlich gesunken. Das hängt aber damit zusammen, dass zuletzt auch deutlich weniger minderjährige Flüchtlinge eingereist sind."
Kein Grund zur Entwarnung
Der BumF hat eine noch nicht veröffentlichte Umfrage durchgeführt, die prozentual sogar einen leichten Trend in die andere Richtung andeutet. Der gemeinnützige Verein befragte gut 720 Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe unter anderem zum Verschwinden unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge. Und die antworteten etwas häufiger als noch im Vorjahr, dass es manchmal bis sehr oft vorkommt, dass junge Migranten verschwinden.
"Die Antworten legen nahe, dass die meisten Jugendlichen am Anfang ihres Aufenthaltes in Deutschland verschwinden, also während der sogenannten vorläufigen Inobhutnahme. 2017 haben 32,2 Prozent der Befragten angegeben, dass dies manchmal bis sehr oft passiert, 2018 waren es 35 Prozent", so Klaus.
Einen deutlicheren Anstieg im Vergleich zu 2017 hat es jedoch in späteren Phasen gegeben. So geben in der aktuellen Studie 20,1 Prozent der befragten Fachkräfte die Auskunft, dass es bei den sogenannten "Hilfen für junge Volljährige" (Unbegleitete Flüchtlinge können auch nach dem 18. Geburtstag noch im Rahmen der Jugendhilfe untergebracht sein) manchmal bis sehr oft zum Verschwinden junger Flüchtlinge kommt. In der Vorjahresumfrage gaben das nur 14,1 Prozent an.
Warum verschwinden die Jugendlichen?
Als Hauptgrund haben die Befragten wie auch in den Jahren zuvor angegeben, dass die meist 14- bis 17-Jährigen auf eigene Faust zu Angehörigen oder sonstigen Bezugspersonen weiterziehen - das kann sowohl eine Reise in andere europäische Länder bedeuten als auch in andere Orte Deutschlands. In letzterem Fall bleiben die unbegleiteten Flüchtlinge meist nicht lange verschwunden, sondern werden wieder aus der Vermisstenstatistik herausgenommen - und meist auch wieder von den Bezugspersonen getrennt.
Ein Beispiel: "Wird ein Jugendlicher in München aufgegriffen und die Cousine lebt in Hamburg, kann das Jugendamt München Hamburg zwar bitten, die Zuständigkeit zu übernehmen. Aber das dortige Jugendamt muss dieser Bitte nicht nachkommen", so Klaus.
Dieser Praxis liegt ein bundesweites Verteilungsverfahren zugrunde, das laut dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zwar eine "dem Kindeswohl entsprechende Unterbringung, Versorgung, Betreuung und Unterstützung" sicherstellen soll. Dem BumF zufolge wird in dem System jedoch zu wenig auf die Interessen und Bedürfnisse der unbegleiteten Minderjährigen geachtet, sondern vielmehr auf die Quote, also ob ein Bundesland, eine Kommune schon verhältnismäßig viele oder wenige jugendliche Flüchtlinge aufgenommen hat.
Angst vor Abschiebung
In der BumF-Umfrage erscheint als zweiter vermuteter Grund für das Verschwinden der Jugendlichen die so empfundene oder tatsächliche fehlende Bleibeperspektive. Klaus sagt: " Viele haben Angst vor Abschiebung, empfinden ein Gefühl der Perspektivlosigkeit."
Die größte Gruppe unter den Vermisstgemeldeten sind laut Zahlen des BKA denn auch Afghanen, welche sich in Deutschland immer wieder mit dem Drohszenario der Abschiebung konfrontiert sehen. Marokkaner und Algerier, Nationalitäten mit besonders wenig Bleibechancen, werden im Vergleich zu den Hauptherkunftsländern geflüchteter Minderjähriger überproportional oft vermisst.
"Wenn Jugendliche keinen Weg innerhalb des Systems für sich sehen und nur vermittelt bekommen 'Du bist hier nicht erwünscht, egal was du tust', sind sie besonders gefährdet, nicht nur kurzfristig zu verschwinden, sondern tatsächlich in die Illegalität und in parallele Systeme abzurutschen", erklärt Klaus.
"Wir wissen nicht, ob sich die Jugendlichen in Gefährdungssituationen befinden"
Denn obwohl die Aufklärungsquote des BKA in den letzten Jahren konstant bei gut 80 Prozent liegt - das heißt, die meisten Vermissten tauchen irgendwann wieder auf - gibt es dennoch auch den Anteil, der verschwunden bleibt. Ob sie etwa obdachlos sind oder sich prostituieren, weiß niemand. Auch in einer Studie des BAMF und der deutschen nationalen Kontaktstelle für das Europäische Migrationsnetzwerk (EMN) ist nachzulesen, es könne nicht ausgeschlossen werden, dass unbegleitete Minderjährige Opfer krimineller Aktivität würden. Um ihren Verbleib besser aufzuklären und sie "besser schützen zu können, bedarf es einer Verbesserung der Datenlage und des Datenaustauschs".
Da kann Tobias Klaus vom BumF nur zustimmen: "Das sollte uns eigentlich am meisten Sorgen bereiten: Dass wir erschreckend wenig darüber wissen, ob und in welchen Gefährdungssituationen sich diese Jugendlichen befinden könnten. Da müsste der Staat einfach mal Geld in die Hand nehmen, es müsste mehr Sozialarbeiter und Unterstützungsangebote geben."