Droht in Polen ein Religionskrieg?
14. März 2023Der private polnische Fernsehsender TVN berichtet seit Jahren über Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche Polens und über die Versuche, die Skandale unter den Teppich zu kehren. Die Aufregung im mehrheitlich katholischen Land hielt sich bisher meistens in Grenzen. Doch die letzte Sendung aus dieser Reihe, die vor einer Woche ausgestrahlt wurde, stach in ein Wespennest.
Die Autoren der Dokumentation lieferten Beweise, dass Papst Johannes Paul II. von den Missbrauchsfällen gewusst hatte, aber nicht eindeutig genug gegen die Täter vorgegangen war.
Der "polnische" Papst - 2005 gestorben, 2014 heiliggesprochen - gilt in seinem Heimatland weiterhin als Nationalheld. Die Menschen, die in Karol Wojtyla ihr Vorbild und ihren Bezugspunkt sehen und die seit dem Fall des Eisernen Vorhangs die Politik und Kultur in Polen bestimmen, werden sogar "Generation JP2" genannt.
Drei Missbrauchsfälle
Der TVN-Bericht bezieht sich auf die 1960er- und 1970er-Jahre, als Karol Wojtyla als Erzbischof von Krakau wirkte, also vor seiner Wahl zum Papst im Jahre 1978. Die Journalisten dokumentieren drei Fälle von Priestern, die Kinder sexuell missbraucht haben, und danach, zum Teil nach Verbüßung einer Haftstrafe, weiterhin als Seelsorger arbeiten durften. In einem Fall wurde der straffällige Priester, der darüber hinaus als inoffizieller Mitarbeiter für den kommunistischen Geheimdienst arbeitete, nach Österreich versetzt.
Im Film kamen auch mehrere Opfer zu Wort, die meisten anonym. Einer der Betroffenen behauptete, dass er Wojtyla bereits 1973 über die sexuellen Übergriffe eines Priesters informiert habe. Der Erzbischof soll ihn aber gebeten haben, nicht weiter über die Sache zu sprechen.
Geschenk an die Regierung?
Die in Polen regierende Vereinigte Rechte erkannte in der Papst-kritischen Sendung ihre Chance, von ihren eigenen Problemen abzulenken. Die Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) von Jaroslaw Kaczynski steht nämlich wegen steigender Verbraucherpreise und Korruptionsskandalen unter Druck. Die Papst-Kritik kam daher - ein halbes Jahr vor der Parlamentswahl - als neues Thema wie ein Gottesgeschenk.
Polens Regierungschef Mateusz Morawiecki nannte die Vorwürfe gegen Karol Wojtyla einen "Versuch, einen zivilisatorischen Krieg in Polen auszulösen". Der Kulturminister Piotr Glinski sagte: "Ein Angriff auf den Papst ist ein Angriff auf Polen, auf die polnische Staatsräson."
Ins gleiche Horn stieß der amtierende Erzbischof von Krakau, Marek Jedraszewski. Er sprach vom "zweiten Attentat auf Johannes Paul II.". Der Papst wurde 1981 im Vatikan durch einen Attentäter schwer verletzt. "Heute, da man Johannes Paul II. nicht mehr physisch töten kann, versucht man, die Erinnerung an ihn zu töten", betonte der erzkonservative Geistliche.
Die Rechte verteidigt den guten Namen des Papstes
Im Handumdrehen entwarf die PiS-Fraktion im Parlament den Text eines Beschlusses zur "Verteidigung des guten Namens des Papstes". Darin heißt es: "Der Sejm verurteilt entschlossen die schändliche Hetze der Medien, die sich größtenteils auf die Unterlagen des Gewaltapparats der [kommunistischen] Volksrepublik Polen stützt und die gegen den großen Papst, den Heiligen Johannes Paul II., den größten Polen in der Geschichte des Landes gerichtet ist."
"Wir lassen nicht zu, dass das Bild eines Menschen, den die ganze freie Welt als eine Säule des Sieges über das Reich des Bösen anerkennt, zerstört wird", kündigten die PiS-Abgeordneten an. Die im TVN-Bericht gezeigten Dokumente kritisierten sie als "von den Kommunisten fabriziert". Bei der Debatte im Sejm hielten PiS-Parlamentarier Papst-Porträts hoch.
"Sie wollen nicht den Papst verteidigen, sondern ihn in die PiS aufnehmen", rief Pawel Kowal von der oppositionellen Bürgerplattform (PO). Dennoch wurde der Beschluss wurde mit großer Mehrheit angenommen. Auch ein Teil der Opposition stimmte mit der PiS.
Mobilisierung der Wähler durch Religionskrieg
In Wirklichkeit stellen die Dokumente des kommunistischen Geheimdienstes, die im Institut des Nationalen Gedenkens IPN aufbewahrt werden, nur einen Teil der Beweise dar. Gerichtsunterlagen und Kirchendokumente sowie Aussagen der Opfer spielen ebenfalls eine wichtige Rolle. "Die PiS benutzt zynisch Johannes Paul II. als Instrument zur Erhaltung der Macht. Die Partei rechnet damit, dass sie mit dem Religionskrieg ihre Wählerschaft mobilisiert und sich so die dritte Legislaturperiode sichert", sagt die Publizistin der Gazeta Wyborcza, Justyna Dobrosz-Oracz.
Der Sender TVN, der zum amerikanischen Discovery Channel gehört, ist der polnischen Rechten seit langem ein Dorn im Auge. Um seinen Unmut über die Dokumentation zu demonstrieren und seinen Wählern Stärke zu zeigen, bestellte das Außenministerium in Warschau den US-Botschafter Mark Brzezinski zum Gespräch ein. Dort bekam der Diplomat zu hören, dass der Sender darauf abziele, Spannungen hervorzurufen und die polnische Gesellschaft zu spalten, wie in einem hybriden Krieg.
Linker Dissident verteidigt den Papst
Die Auseinandersetzung um Johannes Paul II. ist mehr als ein Konflikt zwischen rechts und links. Die Ikone der liberalen polnischen Opposition, der Publizist Adam Michnik, ruft in seiner Zeitung, Gazeta Wyborcza, dazu auf, den Papst "nicht auf die Pädophilie-Skandale zu reduzieren".
Der ehemalige Bürgerrechtler, der sich in den 1970er-Jahren für ein Bündnis zwischen der Kirche und der laizistischen Linken ausgesprochen hatte, erinnert an die Verdienste des Papstes beim Sieg über die kommunistische Diktatur und an sein Engagement für den EU-Beitritt Polens. "Wojtyla war ein Kind seiner Zeit. Was für uns heute selbstverständlich ist, war vor 40 Jahren nicht selbstverständlich", sagte Michnik noch vor der Ausstrahlung der TVN-Dokumentation.
Geschlossene Archive
Auch Papst Franziskus bemüht sich um Verständnis. "Du musst die Sachen in ihrer Zeit einordnen. (…) In damaligen Zeiten wurde alles vertuscht. Bis zum Boston-Skandal. Erst als der Boston-Skandal ausbrach, begann die Kirche das Problem anzuschauen", sagte Franziskus im Interview mit der argentinischen Zeitung La Nacion.
Die polnischen Bischöfe erklärten in einer ersten Reaktion, eine gerechte Bewertung der Entscheidungen und der Tätigkeiten von Karol Wojtyla bedürfe "weiterer Archivrecherchen".
Die Chancen für solche Recherchen durch unabhängige Historiker sind jedoch äußerst gering. Erzbischof Jedraszewski, der über den Zugang zu Kirchen-Archiven entscheidet, hat alle Personalakten unter Verschluss gestellt. Gesperrt sind sogar die Dossiers von Personen, die seit 50 Jahren und mehr tot sind.
Auch Parlamentspräsidentin Elzbieta Witek meldete sich zu Wort. "Johannes Paul II. ist unsere Identität, unser Fundament und Bindeglied. Die Kommunisten wussten das, deshalb versuchten sie, ihn zu zerstören. Heute tun das ihre Nachfolger nach seinem Tod", sagte die PiS-Politikerin in einer Fernsehansprache am Donnerstagabend. Der Papst bedeute für die Polen das "Licht der Freiheit". Wer versuche, dieses Licht auszulöschen, werde auf ein klares und hartes Nein stoßen.