"Mist" zum Kauf empfohlen
14. März 2003New Yorks Chef-Ankläger Eliot Spitzer prüfte zehn Monate lang die Analyse-Praxis der US-Bank. Er kämpfte sich durch Berge von Dokumenten, Anlageempfehlungen und interne Schreiben. Darunter waren auch zahllose E-Mails, die Analytiker, Investmentbanker und deren Chefs austauschten.
Was der Jurist herausfand, muss zahlreiche Kleinanleger, die bisher den Aussagen der Experten vertrauten, bis ins Mark erschrecken. Mitarbeiter der Recherche-Abteilung von Merrill Lynch führten die Öffentlichkeit bewusst in die Irre, so der Bericht. Aktien, für die sie öffentlich mit dem Urteil "Zukaufen" warben, seien intern als "crap" (Mist) beurteilt worden.
"Weder objektiv noch unabhängig"
Ein weiterer Vorwurf Spitzers: "Merrill Lynch informierte die Öffentlichkeit nicht über einen Interessenkonflikt: Die Finanzanalytiker [...] erstellten, bearbeiteten und/oder manipulierten Recherche-Unterlagen mit der Absicht, Kunden für ihre Tätigkeit als Investment Bank zu gewinnen oder zu halten, wobei sie irreführende Urteile fällten, die weder objektiv noch unabhängig waren, obwohl sie dies vorgaben." (Siehe Dokumentation).
Das Unternehmen selbst wies die Anschuldigungen zurück. Die Schlussfolgerungen Spitzers seien falsch, so die Bank. "Wir sind überzeugt, dass eine faire Untersuchung der Tatsachen zeigen wird, dass Merrill Lynch seine Analysen mit Unabhängigkeit und Integrität durchgeführt hat." Die Anschuldigungen offenbarten einen grundsätzlichen Mangel an Verständnis dafür, wie Research funktioniere.
Interessenkonflikt der Banken
Investment-Banken wie Merrill Lynch stehen bei der Analyse von Unternehmen und dem Wert ihrer Aktien vor einem großen Problem: Für ihr "Research", also die Untersuchung der Kurschancen von Einzelaktien und Branchen, erhalten sie selten Geld. Meist bieten sie das Material institutionellen Investoren als Zubrot für deren Aktienbestellungen an.
Für viele Banken an der Wall Street rechnet sich die Unternehmensanalyse nur, weil sie ihnen die Türen zu Großkunden öffnet. Diese wickeln nicht nur Aktienkäufe und –verkäufe über die Brokerhäuser ab, von denen sie Unternehmensinformationen beziehen. Sie bedienen sich ihrer Dienste auch bei Börsengängen sowie bei Übernahmen und Fusionen.
Rollt eine Klagewelle auf die Banken zu?
Für Parkett-Profis ist dieser offenkundige Interessenkonflikt ein alter Hut. "Die Aussagen von Brokern sind immer mit großer Vorsicht zu behandeln", warnte der Chef-Aktienhändler Fidel Helmer von der Frankfurter Privatbank Hauck & Aufhäuser im Gespräch mit DW-WORLD. "Empfehlungen sind schon häufig so schnell revidiert worden, dass man sich fragen musste, was sich bei einem Unternehmen so schnell verändert haben kann. Deswegen würde es mich nicht überraschen, wenn an den Vorwürfen etwas dran ist."
Sollten sich Spitzers Anschuldigungen bewahrheiten, könnten schwere Zeiten für Merrill Lynch anbrechen. Schadensersatzklagen frustierter Anleger wären in diesem Fall Tür und Tor geöffnet.