NS-Zeit - Auf der Suche nach geraubten Büchern
4. August 2017Ein Mann aus Kalifornien hält ein Buch in der Hand. Es enthält die persönliche Widmung seines einstigen Klassenlehrers. Der hochbetagte Herr ist der einzige seiner Familie, der den Holocaust überlebt hat. Neben einem Familienfoto und Kleidungsstück ist ihm aus der alten Heimat nur das Buch geblieben. Er hat Tränen in den Augen.
Das Buch wurde gerade an den rechtmäßigen Besitzer zurückgegeben. "Das sind für uns die wirklich glücklichen Momente, weil wir dann merken, dass sich die Arbeit lohnt", sagt Uwe Hartmann, Leiter des Bereichs Provenienzforschung am Deutschen Zentrum Kulturgutverluste in Magdeburg.
Um die Suche nach geraubten Büchern nun auch in kleineren Bibliotheken voranzubringen, hat das Zentrum einen "Erstcheck" organisiert: Drei erfahrene Provenienzforscher sind in fünf Bibliotheken in Sachsen-Anhalt unterwegs, um zunächst einmal nach Verdachtsmomenten zu suchen. Ziel ist es, herauszufinden, ob es sich bei den Altbeständen teilweise um Raubgut handelt.
Frühere Bestandsaufnahmen helfen
Elena Kiesel forscht in dem Zusammenhang in der Stadtbibliothek Magdeburg. Die Historikerin hat bereits im Landesarchiv gearbeitet und weiß, welche jüdischen Familien oder politischen Parteien in der Gegend enteignet worden sind. In der Bibliothek angekommen, muss sie nicht bei Null anfangen. "Sie hat die Listen aus den vorangegangenen Untersuchungen", erklärt die Bibliotheksleiterin Cornelia Poenicke und meint damit die Erfassung des Altbestands nach der Wiedervereinigung Deutschlands. Anfang der 1990er Jahre ging es allerdings nicht um die Rückgabe von Besitz an jüdische Verfolgte, sondern um Zwangsenteignungen von Gutsherren im Zuge der Landreform in den frühen Jahren der kommunistischen DDR.
"Tauchen Namen auf, die sie in ihren Listen hat, gibt es Anhaltspunkte", fügt Poenicke über Kiesels Arbeit in der Bibliothek hinzu. "Am Ende wird sie ins Magazin gehen und die Bücher aus dem Regal nehmen, zumindest in Teilen. 80.000 Bände wird sie nicht schaffen, aber sie wird Stichproben machen."
Weitere Anhaltspunkte - etwa Listen von Eingängen bei der Stadtbibliothek vor 1945 - fehlen, so Poenicke: Sie fielen Luftangriffen in Magdeburg im Zweiten Weltkrieg zum Opfer.
Eine Nadel im Heuhaufen?
Einstiges Raubgut auch in kleinen und mittelgroßen Bibliotheken zu finden, kann der Suche nach der berühmten Nadel im Heuhaufen gleichkommen. In Magdeburg weiß man jedoch nicht einmal, ob es die Nadel überhaupt gibt.
Andernorts gab es aber bereits größere Funde. Der Bibliotheksbestand der Gebrüder und Kaufhausbesitzer Tietz - die Nazis tauften die "Firma Hermann Tietz" zu "Hertie" um - galt bis vor zwei Jahren als verschollen. Dann fand man 500 Bände aus dem Bestand in Bauzen. "Kleine Stadtbibliotheken haben aber in der Regel keinen wissenschaftlichen Mitarbeiter, der solche historische Forschung betreiben kann", erklärt Uwe Hartmann. Daher der "Erstcheck".
Auf verschlungenen Wegen
Dass einzelne Bücher oder ganze Sammlungen jüdischer Besitzer in öffentliche Bibliotheken gelangt sind, begann nicht mit den Zwangsenteignungen nach der Reichspogromnacht im November 1938. Wer zuvor emigrieren konnte, musste oft sein Hab und Gut versteigern, um Geld für die "Reichsfluchtsteuer" aufzutreiben. Später wurden Juden in den kriegsbesetzten Gebieten in "Schutzhaft" genommen und ihr Eigentum "sichergestellt", um es vor angeblicher Plünderei zu schützen.
Die Methoden der Judenverfolgung in Nazideutschland entsprachen keiner blinden Zerstörungswut, sondern waren geprägt von einer perfiden Systematik. Gerade dies ermöglicht es heute mitunter, einst geraubte Gegenstände zu identifizieren. "Reichstauschstelle" laute hier das Stichwort, so Uwe Hartmann. Über die Einrichtung, die schon vor 1933 existierte, konnten Bibliotheken Doubletten austauschen. Nach der Zerstörung einzelner Bibliotheken im Krieg funktionierte sie als Börse, um Verluste auszugleichen. Teilweise wurde der Tausch auch dokumentiert.
Anders als bei Kunstwerken ging es dem NS-Regime nicht in erster Linie um den finanziellen Wert von Büchern, sondern auch um die "weltanschauliche Gegnerforschung". In der "Hohen Schule" der NSDAP mit ihrem Chefideologen Alfred Rosenberg sammelte man etwa Argumente gegen das Judentum.
Washingtoner Erklärung
Seit 2014 werden am Deutschen Zentrum Kulturgutverluste jährlich vier Millionen Euro für die Provenienzforschung in Museen und Bibliotheken aufgewendet; der Etat stammt aus dem Haushalt der Beauftragten für Medien und Kultur Monika Grütters. Dass dies ein aktuelles Thema ist, hat mit der "Washingtoner Erklärung" vom 3. Dezember 1998 zu tun. Darin verpflichten sich die Unterzeichner-Staaten - darunter Deutschland - Vorkriegseigentümer ausfindig zu machen und eine "gerechte und faire Lösung" für Kriegsraubgut zu finden.
Aber warum erst mit der Washingtoner Erklärung? "Man hatte die Befürchtung, dass, sobald die ursprünglichen Eigentümer feststehen, man sich von den Objekten trennen muss", erklärt Cornelia Poenicke. "Wir wissen inzwischen, dass das vielfach gar nicht der Fall ist, weil Erben auch großzügig damit umgehen. Das hat für eine gewisse Entspannung bei den Leitern solcher Einrichtungen gesorgt."
Deutschlandweiter "Erstcheck" wünschenswert
Uwe Hartmann stimmt zu: "Es gibt diese stereotypen Argumente, dass es den Erben nur ums Geld und nicht um die Objekte geht. Aber gerade bei diesen Durchschnittsbüchereien, oder auch Fachbibliotheken, sagen die Erben oft: 'Das Original ist besser in der Bibliothek aufgehoben.'"
Sollte es nicht möglich sein, die rechtmäßigen Besitzer oder ihre Erben zu finden, veröffentlicht das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste Beschreibungen der Bücher mit Foto oder Stempel in der Datenbank lostart.de. So haben Nachfahren die Möglichkeit, sich an das Zentrum zu wenden.
Obwohl die Forschung ergebnisoffen ist, hofft die Stadtbibliothek Magdeburg, die 2025 ihr 500. Jubiläum feiert, auf positive Funde, so Maik Hattenhorst, zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit. "Wir sind gespannt, was sich bei uns hier im Haus ergibt", fügt Poenicke hinzu.
"Da haben wir das Beispiel Bauzen und jetzt die fünf Bibliotheken in Sachsen-Anhalt", sagt Uwe Hartmann, der hofft, dass das "Erstcheck"-Modell flächendeckend in Deutschland zum Tragen kommen kann. "6000 Bibliotheken gibt es in Deutschland mit historischen Beständen. Daher sage ich meinen Studierenden immer: Die nächste Generation von Museums- und Bibliotheken-Mitarbeitern wird mit ihrer Arbeit noch nicht am Ende angelangt sein."